Im Reich der Schwerkraft

Was sagst Du den Leuten eigentlich als erstes, bevor sie mit Dir unterwegs sein werden? Worauf legst Du am meisten wert? Das wurde ich unlängst in Vorbereitung auf eine „Bergsteigersprechstunde“ gefragt, die meine Alpenvereinssektion mit mir als Gast am kommenden Dienstag zum ersten Mal als Online-Meeting auflegen wird. Ich freue mich darauf, weil ich von meinen vielen Vorträgen auf Firmenveranstaltungen weiß, wie anregend und auch lehrreich die Beschäftigung mit den bisweilen bohrenden Fragen und Meinungen der Zuhörer sein kann. 

Doch für die Antwort auf diese Frage muss ich nicht lange überlegen.

Im linken Bild klettere ich die „Direkte Südwand“ an der Steinschleuder über Rathen an der Elbe (Foto: Diana Richter). Rechts klinke ich gerade den zweiten Ring in der Route „Blickpunkt“ am Fritziturm im Bielatal der Sächsischen Schweiz (Foto: Diana Richter).

Wenn wir zum Klettern und Bergsteigen aufbrechen, begeben wir uns in den Geltungsbereich einer universellen Kraft. Sie zieht uns und alles um uns herum völlig emotionslos nach unten. Dieser Ort, an dem wir uns jetzt hoch oben üben dem Boden befinden, ist ein ernster Ort. Hier herrschen verschärfte Bedingungen. Und dieser Kraft, der wir dort oben ausgesetzt sind, ist es völlig gleichgültig, wie gut wir sind, wie verletzlich, wie groß unsere Ambitionen oder Nöte oder Ängste oder welcher Art unsere Triebkräfte sind. Sie zieht uns einfach nur nach unten. Und wenn der Griff vor dem ersten Ring ausbricht, und wir auf dem Boden aufschlagen, der Stein uns trifft oder die Lawine uns überrollt, ist sie jedenfalls nicht schuld daran.

Links klettere ich in der „Italienerrinne“ am Fitz Roy in Patagonien (Foto: Fabian Gutknecht-Stöhr). Rechts steige ich die „Franzosenrinne“ am Alpamayo in Peru vor. (Foto: Jacob Andreas)

Wir müssen akzeptieren, dass wir uns in einen Gefahrenraum begeben, in dem wir niemals immer alles unter Kontrolle haben können. Keiner von uns, also auch der nicht, in dessen Obhut wir uns klugerweise begeben haben. Er kann helfen, beraten, vielleicht sogar wegen seiner Erfahrung die fundierteren Entscheidungen treffen. Aber die Gravitation abstellen, dass kann er nicht.

Nun könnte man meinen, dies sei eine Binsenweisheit und deshalb überflüssig, sie zu artikulieren. Meine Lebenswirklichkeit ist eine andere. Ich habe zunehmend das Gefühl, dass viele dieser Tatsache zu wenig Bedeutung beimessen. Mit der ständig wachsenden Popularität des Bergsports nimmt das kollektive Bewusstsein für die Gefahr ab. Zumindest wurde das von mir in den vergangenen zwanzig Jahren so wahrgenommen. Ich könnte dafür viele sehr plastische Beispiele nennen.

Darauf hinzuweisen und damit auch zu erklären, warum manches so und nicht anders laufen kann, um Verständnis zu bitten, dass wir nicht den zweiten oder dritten Schritt vor dem ersten machen dürfen, ist das, worauf ich am meisten wert lege.

Im linken Bild sind wir am gigantischen Südgrat des Siebentausenders Baruntse in Nepal unterwegs (Foto: Christoph Descher). Rechts klettere ich den „Zylinder“ am Nordportal des Felbertauerntunnels. (Foto: Mario Rückert)

Aber das ist nicht alles, denn daraus folgt natürlich das ein oder andere, welches ebenfalls ganz zeitig Thema sein wird.

Ich will, dass nichts, aber auch gar nichts von dem, was wir gemeinsam im Geltungsbereich der Erdanziehungskraft tun, unverstanden bleibt. Denn nur so ist es möglich, Fehler, seine eigenen und auch die des ach so erfahrenen Guides, überhaupt zu erkennen. Der ist nämlich auch nur ein fehlbarer Mensch. Ganz praktisch heißt das, ich verlange von meinen Partnern, dass sie mir zuschauen, immer bei der Sache sind und alles, was sie nicht verstehen oder leicht nachvollziehen können, hinterfragen. 

Mit anderen Worten möchte ich, dass die Verantwortung für sich selbst, auch bei einem selbst bleibt. Sie leichtfertig abzugeben, mag ein Kunde womöglich als sein Recht einfordern. Ratsam hingegen finde ich das ganz und gar nicht.

Im Bild links sind Alexander Graeber und ich in Nepal am Nordwestgrat des Amphu Middle (6138 m) bei unserer Erstbesteigung dieses Berges unterwegs (Foto: Karin Mehlhase). Rechts klettere ich in der 600 m hohen, fast senkrechten Südwestwand bei unserem Erstbegehungsversuch am Monte Sarmiento in Feuerland (Foto: Falk Liebstein).

Und der dritte Punkt ist, dass jemand, der sich allein oder unter Anleitung mit viel Luft unter dem Hintern in den Herrschaftsbereich der Schwerkraft begibt, demütig bleiben sollte. Ich weiß, dieses Wort hat seinen guten Klang lange verloren. Beim Klettern und Bergsteigen kann Demut jedoch Gesundheit und Leben retten. Wenn wir merken, dass wir der Tour oder der Route nicht gewachsen sind, müssen wir es uns auch eingestehen, so deprimierend das manchmal sein kann. UND man muss es vor allem laut aussprechen, dass man sich überfordert fühlt. Nicht immer sind die anderen in der Gruppe bzw. der Führende in der Lage, dass zu erkennen. Damit tut man nicht nur sich selbst einen Gefallen. Wie wichtig gerade letzteres ist, und wie viel daran hängt, auch dafür könnte ich viele eindrückliche Beispiele aufführen.

 

Links klettere ich die Route „Kalte Schulter“ im Aktienbruch in Halle-Löbejün (Foto: Ulf Wogenstein). Rechts bin ich in den Dolomiten am Torre Grande in der „Direkten Südostwand“ unterwegs (Foto: Brigitte Bayr).

Nun ließe sich darüber vermutlich nicht streiten, ob eine Vorabansprache zu diesen Themen marketingtechnisch der große Wurf ist. Die Auseinandersetzung mit den Themen Schwerkraft, Verantwortung, Kontrolle und Gefahr gleich am Anfang sind ja wohl eindeutig eine Spaßbremse. Ich aber denke, gerade weil es so unvergleichlich viel Spaß macht, gegen die Schwerkraft und vor allem gegen sich selbst zu kämpfen und dann auch zu gewinnen und weil es einem so überaus viel geben kann, müssen wir uns vehement dagegen wappnen, dass aus Spaß wegen unserer Leichtsinnigkeit, Bequemlichkeit oder Dummheit eben nicht TODernst wird.

Links klettere ich am Westgrat des 6543 m hohen Shivling im indischen Garhwal-Himalaya (Foto: Jacob Andreas). Rechts beginne ich gerade den Aufstieg im über 700 m langen Japaner Couloir am  Hidden Peak (8080 m) im Jahr 2019 in Pakistan (Foto: Jacob Andreas).

Ich bin gespannt, über was wir noch alles nachdenken werden in der ersten Bergsteigersprechstunde unserer Leipziger DAV-Sektion. Wenn Ihr Fragen habt oder einfach nur meinen Antworten auf die Fragen der anderen lauschen möchtet, dann klickt Euch am kommenden Dienstag um 18.30 Uhr gern HIER mit ein:

 

 

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Eine Antwort

  1. Claudia sagt:

    Wie immer findest Du die richtigen Worte. Genau diese Klarheit schätze ich sehr an Dir und fühle mich damit immer gut von Dir auf unseren Touren geführt und beraten. Ein Danke ist eigentlich nicht genug …

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