ÜBER-Lebenselixier

Ich kann die Wirklichkeit, die uns umgibt, nicht ändern. Nicht den Klimawandel, keine Pandemie, nicht die Dummheit der Menschen und ihre grassierende Empörungskultur, welche noch schlimmer um sich greift, als die Seuche. Was ich aber beeinflussen kann, ist meine Lebenswirklichkeit und auch mich selbst kann ich ändern. Und das geht nirgends besser als beim Klettern. Jedenfalls gilt das für mich.

Der Wirklichkeit wenigstens ab und zu einmal zu entkommen, ist für uns Menschen so wichtig wie die Luft zum Atmen. Die kleinen und großen Fluchten sind es, die uns Menschen die Kraft geben, weiter zu machen. Alle fliehen vor ihr auf die eine oder andere Weise, weil es anders gar nicht geht.

In der Talseite am Höllenhund links in Rathen und rechts im Direkten Alten Weg am Chinesen, Bielatal, Elbsandstein.

Die einen flüchten in ihren Schrebergarten oder auf die Aida, die anderen ins Kino oder an die Theke. Ich fliehe an die Felsen, in die Berge. Ich klettere, weil ich nirgendwo dem Hamsterrad meiner Gedanken, meinen Ängsten, meinen Sorgen vor der Zukunft so sicher und so gründlich entkommen kann, wie beim Kampf gegen die Schwerkraft.

Die Angst vor dem Fallen ist uns so tief ins Gehirn eingegraben, dass wir selbst dann Angst davor haben, wenn wir uns vollkommen bewusst sind, dass gar keine Gefahr droht. Ich brauche bloß vom Boden abzuheben und meine Sicherungsfrau auf Mausgröße zusammenschrumpfen sehen, dann bin ich so bei mir und dem was ich tue, dass mich nichts mehr ablenken kann. Oft nicht einmal mehr meine Angst selbst.

Das ist ein Phänomen, welches ich noch nirgends sonst erlebt habe. Aber das ist längst noch nicht alles.

Links in der Südwand an der Steinschleuder, Rathen und rechts in der Reißigkante am Artariastein, Bielatal, Elbsandstein. (Fotos: Diana Richter)

Wenn ich aus einer schweren Route aussteige, wenn ich mir selbst und meinen Ängsten ein Schnippchen schlug, wenn ich mich an das Gefühl erinnere, wie die Furcht vor dem Kontrollverlust in mir aufstieg und ich sie wieder niederringen konnte, dann stellt sich bei mir auf dem Gipfel ein Glücksgefühl ein, welches lange anhält und das auch beim nächsten Mal wieder da sein wird. Ich weiß das, denn dieser Mechanismus nutzt sich einfach niemals ab.

Das ist vielleicht die erstaunlichste Eigenart dieser besonderen Tätigkeit. Wie oft schon habe ich mich gewundert, über den immer stärker werdenden Auftrieb, diese sich leise steigernde Erregung, wenn ich den Felsen immer näher kam. Hört das denn niemals auf?

Links klettere ich an der Dürrebielenadel (Bielatal, Elbsandstein) durch die Lebensuhr und bin gleich oben (Foto: Sebastian Wahlhütter). Rechts bin ich gerade mit Janina nach 21 Seillängen auf dem Gipfel der Punta Albigna (Bergell, Schweiz) eingetroffen.

Nein, bei mir jedenfalls nicht. Klettern ist vor allem genau deshalb etwas einmaliges. Ich kann mir quasi auf Knopfdruck Glücklichsein besorgen. Ganz ohne Drogen. Wo geht das sonst noch?

Und jeder kann das haben, weil es jedem die gleichen Erlebnisse und Emotionen beschert. Noch so eine wundersame Eigenart dieses Sports. Der Kletterer, der sich zum ersten Mal an einen Vorstieg im fünften Grad traut, erlebt das gleiche, wie derjenige, der seine erste Acht durchsteigt. Und wenn der Achterkletterer 20 Jahre später mit schmerzenden Handgelenken und zwei kaputten Schultern an guten Tagen mit viel Mühe vielleicht noch einen leichten Siebener raufkommt, wird er genauso glücklich sein über die Tatsache, dass er Herr über seinen Körper und seine Angst geblieben ist wie zwei Jahrzehnte zuvor nach seiner ersten schweren Achtertour.

Und wenn ich 80 werden sollte, dann wird es immer noch so sein, denn falls ich dann auch nur einen Fuß vor den anderen setzen kann, werde ich immer noch klettern, und ich werde immer noch das Gleiche erleben wie gegenwärtig oder vor 20 Jahren.

Links mit Falk Liebstein am Monte Sarmiento auf Feuerland (Chile), rechts mit Uwe Daniel auf dem Gipfel des Stetind (Norwegen).

Es ist sogar gut möglich, dass dann noch immer die gleichen Leute zu mir hinauf schauen bzw. dann wohl eher oben stehen und auf mich runtersehen, weil die meisten von denen, die dann mit mir klettern, jünger, viel jünger sein werden als ich. Denn das sind sie ja jetzt schon alle.

Und damit sind wir gleich bei der nächsten Einzigartigkeit dieses Sports. Wer klettert, ist darauf angewiesen, dass er einen Sicherungsmann hat. Ihm muss er bedingungslos vertrauen. Und dieser muss sich im Klaren darüber sein, welche Verantwortung er für seinen Vorsteiger hat. Ich kann solange darüber nachdenken, wie ich will. Mir fällt keine andere Tätigkeit ein, bei welcher Menschen so bedingungslos Verantwortung übernehmen bzw. anderen so blind vertrauen müssen.

Links ein wirklich sehr aufmerksamer Sicherungsmann in Ceüse (Frankreich) und Jacob völlig entspannt nach einer schweren Route in Hatun Machay (Peru).

Das verbindet. Diese Verbundenheit ist einzigartig. Es ist eine Mischung aus Dankbarkeit, tiefem gegenseitigen Verstehen und gemeinsam empfundenem Glück. Jene bei uns eben gar nicht so seltenen Augenblicke brennen sich für immer ins Gedächtnis und sind so wertvoll, dass sie durch nichts zu übertreffen sind.

Das hört sich in den Ohren der Leser sicher wirklich nach Transformation von Wirklichkeit an, nach Flucht vor der Realität. Vielleicht auch nach Abhängigkeit. Aber ich lasse mich gerne als Süchtigen bezeichnen, wenn diese Sucht mit Dankbarkeit, Verantwortungsgefühl, Verständnis, Vertrauen, Flow und Glück verbunden ist und man sich eine Prise davon reinziehen kann, wann immer das Wetter es zulässt.

Der Frühling ist da, zumindest nach dem Kalender, und wenn dann in der nächsten Woche auch die Sonne endlich mal scheint, dürft ihr drei Mal raten, wo ich bin…

Ein sehr glücklicher Moment auf einem der schönsten Gipfel Europas, dem Hamaroyskaftet (Norwegen).

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3 Antworten

  1. Erhard Klingner sagt:

    Ach, das hast Du schön gesagt! Hab ich noch nie so schön, kurz und direkt gehört. Danke!

    • Claudia sagt:

      Ich kann mich meinen Vorgängern nur anschließen – Du hast es wunderbar auf den Punkt gebracht, warum wir es nicht lassen können, am Fels zu sein. Und da lass ich mich auch gern als Süchtige bezeichnen – es ist immer wieder schön, mit Dir unterwegs zu sein.

  2. Christian Pech sagt:

    Das ist Balsam für die (Kletterer-)Seele. Genau so ist es und darum müssen wir da hoch!

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