Die brennende Seele der Erde

Ich werde oft gefragt, wo ich denn am liebsten zum Klettern bin. Wo es am schönsten sei. Und regelmäßig bin ich überfordert mit einer Antwort. Natürlich kann es nur im Elbsandstein am schönsten sein. Schließlich ist dieses Gebirgskleinod mein Hausklettergebiet. Hier bin ich als Kletterer sozialisiert. Und dann steht hier auch noch die Wiege des Klettersports. Oder die Dolomiten? Wo anders findet der abenteuerlustige Kletterer so zahlreich derartig imposante Türme? Oder Meteora? Mir blieb der Mund offenstehen, als ich die gewaltigen Riesenfelsen mit den Klöstern obendrauf zum ersten Mal erblickte. Doch wenn ich in mein Tourenarchiv schaue, dann stelle ich fest, dass ich, mal abgesehen von der Sächsischen Schweiz, nirgendwo so häufig war, wie im Bergell. Und das hat natürlich Gründe.

Der Blick im Bergell schlechthin: Wir schauen das Bondascatal hinauf zu Sciora, Cengalo und Piz Badile. Das Dorf ist Soglio, welches die Ehre hat, das schönste Dorf der Schweiz zu sein.

Eigentlich ist das Bergell ein Tal, geschaffen von dem Fluss Mera. Der Name dieses Tales leitet sich von dem lateinischen Begriff Praegallia ab und bedeutet soviel wie „Vorgallien“. Es erstreckt sich in west-östlicher Richtung zwischen dem Maloja-Pass im Schweizer Kanton Graubünden bis zum italienischen Chiavenna in der Provinz Sondrio.

Doch wenn ich an das Bergell denke, dann meine ich nicht das Tal sondern die Bergeller Alpen, welche dieses Tal im Süden flankieren sowie die drei Seitentäler, die von dort her ins Bergell münden: Das Val Forno, das Val da l´Albigna sowie das Val Bondasca. Und in letzterem befinden sich die Kronjuwelen des Bergell: Allen voran der Piz Badile, der Piz Cengalo, die Gemelli oder die Türme der Sciora-Gruppe.

Das Val da l´Albigna mit dem Stausee.

Und ganz selbstverständlich zählen für mich zu den Bergeller Alpen auch die berühmten Täler ihrer Südabdachung dazu wie das Val di Mello mit seinen gewaltigen Granitfluchten und auch das Val dell´Oro oder das Val Porcellizzo. Deshalb ist das Potential an phantastischen Klettermöglichkeiten schier unbegrenzt.

Ganz schnell wird das deutlich, wenn der neugierig gewordene Kletterer Touren planen und sich deshalb mit der Führerliteratur auseinandersetzen möchte. Er trifft auf drei Bände, welche den Norden der Bergeller Alpen, den Süden sowie das Val di Mello umfassen. Weit über 1000 Seiten „Nichts als Granit“. Die Masse an Möglichkeiten reicht für mehrere Klettererleben. Selbst für lange.

Das Val di Mello ist das Mekka für unerschrockene Schwerkletterer in den Alpen.

Als ich 2008 das erste Mal im Bergell war, hatte ich das riesengroße Glück, einen ausgewiesenen Bergell-Kenner an meiner Seite zu haben. Erich Kilchör hat sein ganzes Leben im Bergell verbracht, war leidenschaftlicher Kletterer und kannte das Gebiet wie seine Westentasche. Auch bei meinem zweiten Aufenthalt gleich ein Jahr später war er wieder unser Mentor und Ratgeber in Sachen großartiger Routen. Er hat ganz sicher den Grundstein für meine ausgeprägte Bergell-Affinität gelegt.

Erwin mit über 70 fit wie ein junger Kerl. Ich musste zusehen, dass ich überhaupt mithalte!

Und weil es hier so schön ist und die Zahl an großartigen Routen schier unerschöpflich, bin ich auch schon bald mit Klettergästen an diesen Ort gekommen. Die Kombination aus leichter Erreichbarkeit, einer großen Zahl von hervorragend abgesicherten Routen in vor allem mittleren Schwierigkeitsgraden und guten Übernachtungsmöglichkeiten ist buchstäblich nirgendwo so perfekt wie im Val da l´Albigna. Allein hier gibt es alles, was des Kletterers Herz begehrt. Und die Albigna ist nur eines von den vielleicht ein Dutzend mit tollen Klettergipfeln reich gesegneten Tälern des Bergell. 

Risse, Schuppen, Kamine. Hier an der Spazzacaldera in der Albigna. Ich klettere die Route „Via Leni“. Erstbegeher ist Erwin Kilchör. (Foto: Urs Zeller)

Aber es sind nicht nur die unbegrenzten Möglichkeiten, die mich immer wieder hierher kommen lassen. Es ist auch der Fels selbst. Der vielleicht großartigste und fähigste Alpinist aller Zeiten, Walter Bonatti, hat seine Ansicht zum Bergeller Granit einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: „Erst viel später, viele Berge weiter, wurde mir klar, dass dies der schönste Granit der Welt ist.“ Genau das finde ich auch. Und dann kommt noch dazu, dass ich sowieso auf Granit am liebsten klettere. Ich mag seine Rauigkeit, seine Härte und das gute Gefühl von Verlässlichkeit, was ich Elbsandsteinkletterer als ganz besonders angenehm empfinde.

Eines der Wahrzeichen im Bergell, die Fiamma auf der Spazzacaldera.

Ein weiterer Vorzug ist, dass der Granit oft logische Linien an Rissen und Schuppen vorgibt oder wegen seiner Rauigkeit großartige Klettereien auf Platten möglich macht. Das bedingt eine Vielfalt auf diesem relativ begrenzten Raum, welche nirgendwo anders in den Alpen zu finden ist. Ausdruck dafür ist unter vielem anderen auch die Tatsache, dass hier einige der großartigsten Routen der gesamten Alpen zu finden sind. Eine der berühmtesten Routen findet sich am Piz Badile. Die legendäre „Cassin“ führt durch die über 1000 Meter hohe Nordostwand dieses gewaltigen Felsmassivs. Die vielen Tragödien und Katastrophen, die sich in dieser Wand ereignet haben, füllen ganze Bücher. Aber vor allem bietet diese Route traumhaft schöne Kletterei an bombenfestem Granit. In meiner alpinen Biographie nimmt dieser Weg einen Platz ganz weit vorn ein.

Thomas Elgner in den schier endlosen Granitfluchten der Nordostwand des Piz Badile. Wir kletterten die „Cassin“ im vergangenen Jahr.

Und die Nordkante des Piz Badile, halten viele sogar für den schönsten Weg der gesamten Alpen. Zu ihr bin ich gerade so gut wie unterwegs. Nächste Woche geht es los. Dann bin ich endlich wieder in meinem Lieblingsklettergebiet, wo sie zu Stein geworden ist, die brennende Seele der Erde. Im Granit des Bergell.

Gewaltige Granitwände im Val di Mello. Ich hänge am 4. Stand in der Route „Sole Che Ride am Precipizio degli Asteroidi. (Foto: Janina Graeber)

Wer mehr zum Badile und zur „Cassin“ oder über die Katastrophe im Bondascatal erfahren möchte, kann hier weiterlesen:

Die Wand der Wände (Teil 1)

Die Wand der Wände (Teil 2)

Messer am Hals

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4 Antworten

  1. Christian Pech sagt:

    Ich könnte gleich losfahren ins Bergell! Die Bilder und der Text machen große Lust darauf.
    Die Bergwelt , die kleinen Ortschaften sind schon besonders. Ein Klettererleben reicht nicht aus, um alles zu sehen.
    Es ist schon eine Weile her, als wir auf der Fiamma standen, aber unvergesslich. Auch die Durchquerung mit Zelt, noch vor dem großen Bergsturz im Val Bondasca, bleibt in guter Erinnerung.
    Ins Bergell kann man immer wieder fahren – egal ob Nord- oder Südseite, egal ob zum Klettern oder Wandern.
    ich wünsche Dir eine schöne Zeit im Granitwunderland.

  2. Ich freue mich über Dein Lob vom Elbsandsteingebirge, ich bin zwar kein Kletterer, nur die Herkulessäule hab ich erklommen, aber ich bin aus Stadt Wehlen, im Strandhotel geboren, liebe Grüsse Christine und alles Gute weiterhin. 🙂

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