Rückblick auf ein großes Jahr

Offensichtlich interessiert die Leute das brennend. Mir ist diese „Frage“ regelmäßig unangenehm, erinnert sie mich doch an mein scheinbar unlösbares Problem. Diese Neugierigen legen den Finger in die Wunde. Meist ist es noch nicht einmal eine Frage im klassischen Sinn. Eher eine Feststellung, die eine Entgegnung verlangt: „Also sach mal, ewig kannst Du das doch nicht mehr machen mit diesen Expeditionen und den vielen Touren. Du wirst doch nun auch nicht jünger.“ Und wenn die Entgegnung ausbleibt und ich nur mein Gesicht leicht verziehe als täte mir etwas weh, wird nachgehakt. Aber mit einer erschöpfenden Antwort kann ich trotzdem nicht dienen. Ich schaue meist nur und sage: „Ich weiß“.

Daran denken muss ich, weil das zurückliegende Jahr seit dem 30. September 1998, meinem letzten Arbeitstag in der Veterinärmedizinischen Fakultät, das tourenintensivste überhaupt war. In gleich sieben verschiedene Länder führten mich meine Unternehmungen. Noch nie bin ich in den vergangenen 24 Jahren so lange und vor allem so fordernd unterwegs gewesen.

Und ich gebe zu, so war das auch nicht gedacht. Ich wollte den Schwerpunkt meiner Arbeit von den Touren auf Vorträge vor allem in Firmen und Alpenvereinssektionen verschieben. Und die Umsetzung dieses Plans war auch auf einem sehr guten Weg.

Doch dann stellte sich ein kleines, hoch ansteckendes Virus in diesen Weg, und es steht heute noch dort. Gab es 2019 im Vorcoronajahr 19 Vorträge und 2020 allein vier im Januar, fielen anschließend nahezu alle weiteren aus. Etwa ein Drittel bis die Hälfte meiner Einnahmen lösten sich buchstäblich in Luft auf. Und ich finde es sehr bemerkenswert und natürlich auch ziemlich bitter, dass sich dies nicht wieder umzukehren scheint. Weiß der Fuchs, warum!

Nun könnte ich mich darüber ärgern. Aber das wäre nun wirklich vergeudete Energie. Jammern hilft nicht, im Gegenteil! Es gibt sogar Grund zur Freude. Denn ich war breit aufgestellt. Mit den Touren konnte ich einen Teil der ausgebliebenen Einahmen wieder ausgleichen. Und so sind wir beim gerade vergangenen Jahr.

Es war ein großartiges, ein besonderes Jahr für mich, welches so viele Höhepunkte, spannende Erlebnisse und inspirierende Begegnungen in petto hatte wie noch keines zuvor. Wenn das kein Grund ist, sich zu freuen und dankbar zu sein?

Los ging es schon Mitte Januar mit drei Wochen Eisklettern. Claudia, Helmut und Stefan waren mit von der Partie. Ich freute mich auf die drei, weil ich mit jedem von ihnen während unterschiedlicher Touren auf den über 6000 m hohen Nirekha Peak in Nepal gestiegen bin. Ich wusste, sie sind erfahren und fit! Und es war einfach toll. Es gibt nichts befriedigenderes, als mit netten, klugen Leuten in der Natur unterwegs zu sein und gemeinsam großartige Dinge zu erleben, die sich zu denen gesellen, welche man nie mehr vergisst. 

Dann ging es im März für einen Monat nach Nepal. Es ist für mich nach fast 40 Reisen in dieses wunderschöne und spektakuläre Land jedes Mal so, als würde ich nach Hause kommen. Allerdings gab es einen Wermutstropfen. Drei meiner Gäste mussten nur Stunden vor der Abreise wegen Krankheit und eines positiven Coronatests absagen. Für die anderen hat alles wie am Schnürchen geklappt. Wir konnten unsere Ziele erreichen und auch das Wetter hat uns auch auf dieser Reise wieder einmal nicht im Stich gelassen.

Der April und Mai war ausgefüllt mit einem halben Dutzend Kletterkursen. Besonders in Erinnerung wird mir der Schlingenkurs im Elbsandstein bleiben, den ich für meine Alpenvereinssektion veranstaltet habe. Mir macht es großen Spaß, ambitionierten Leuten zu zeigen, wie man sicher und entspannt auch im so gefürchteten Sandstein an der Elbe klettern kann. Und vor allem, weshalb und wie man vorsichtig mit dem so empfindlichen Sandstein umgehen muss bzw. kann. Schließlich sollen sich auch in hundert Jahren die Kletterer noch an den großen Klassikern im schönsten Gebirge der Welt erfreuen können.

Fast den gesamten Juni verbrachte ich in Chamonix. Christina und ihr Bruder Thomas wollten mehr Erfahrung in Schnee und Eis sammeln. Also sind wir über das Mer de Glace ins Vallée Blanche aufgestiegen und anschließend noch alpin geklettert.

Danach kam Katrin, um sich ebenfalls in alpinen Mehrseillängenrouten zu versuchen. Mehr als ein halbes Dutzend solcher Touren rund um Chamonix stehen seit dem in Katrins Tourenbuch.

Wieder war ich nur wenige Tage zu Hause in Leipzig bis es Anfang Juli auf große Tour nach Pakistan ging. Der Laila Peak stand auf dem Programm. Dieser wunderschöne Sechstausender war schon 2019 nach dem Gipfelerfolg am 8080 m hohen Hidden Peak ein Ziel von mir. Doch 2019 hatten wir einfach zu wenig Zeit und dazu fehlte uns das an den großen Bergen immer nötige gute und stabile Wetter.

Doch im vergangenen Jahr hatten Max, Thomas und ich Glück. Zuerst allerdings sah es gar nicht danach aus. Zwei Vorgängerteams hatten sich die Zähne an den schwierigen Verhältnissen in der Gipfeleiswand ausgebissen. Es gab dort viel blankes Eis. Man malte uns die Bedingungen an der Laila in den schwärzesten Farben aus. Aber auch in diesem Fall galt, wie es häufig ist. Die schlechten Verhältnisse am Berg oder das Wetter werden oft vorgeschoben, wenn einen der Mut verlässt. Wir wollten uns selbst ein Bild verschaffen. Und es hat funktioniert.

Der wichtigste Umstand, dass wir Erfolg am Laila Peak hatten, war das schlagkräftige Team. Jeder von uns dreien konnte jede beliebige Aufgabe am Berg übernehmen. Wir waren rasch unterwegs, und was ich persönlich auch als sehr angenehm empfand, war die Tatsache, dass jeder von uns immer zugänglich für die Vorschläge und Argumente der anderen war. Es wurde intensiv nachgedacht und argumentiert und anschließend genau das gemacht, was uns dreien am vielversprechendsten erschien und was wir gemeinsam und einvernehmlich beschlossen hatten. Das war der Schlüssel zum Erfolg am Laila Peak.

Als ich in der ersten Augusthälfte wieder zu Hause eintraf, reichte die Zeit kaum zum Rucksack aus-, Wäsche waschen und wieder einpacken. Nach nur drei Tagen in Leipzig war ich mit Uwe abermals in Chamonix. Hitzwelle, Steinschlag überall, Aufstiegsverbot am Mont Blanc. Der höchste Berg der Alpen war in aller Munde. Wir machten das Beste daraus, ließen den Mont Blanc einfach links liegen und kletterten stattdessen eine lange Traumroute nach der anderen und genossen das stabil schöne und warme Wetter.

Genau in dem Moment als der Mont Blanc wieder zugänglich gemacht wurde, kam Claudia, sah und siegte. Was für ein Glück wir hatten! Bei perfekten Bedingungen und ohne die geringsten Probleme stiegen wir in weniger als 30 Stunden von Chamonix auf den Gipfel und auch wieder runter. Auf dem höchsten Punkt standen wir bei strahlendem Sonnenschein völlig allein!

Nach diesem tollen Erfolg ging es Anfang September von Chamonix ohne Pause direkt zum Piz Badile ins Bergell. Schon seit vielen Jahren wollte ich die „Cassin“ in der Nordostwand dieser gewaltigen Felsbastion klettern. Und genau jetzt erschein mir der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. Mit Thomas hatte ich einen bärenstarken und hochmotivierten Partner gefunden.

Und auch hier war das Team das Entscheidende, denn die Verhältnisse präsentierten sich eher bescheiden. Viele der Schlüsselstellen in der Route waren nass, dass Wetter ließ ebenfalls zu wünschen übrig. Doch dies war immerhin der Grund, warum wir die gewaltige Nordostwand des Badile ganz für uns allein hatten. Diese Bergfahrt war ein großartiges Erlebnis und ganz bestimmt eine meiner eindrücklichsten Klettertouren überhaupt.

Mitte September ging es dann endlich nach dreieinhalb Monaten fast ununterbrochenem Unterwegssein für eine etwas längere Zeit wieder nach Leipzig. Doch hier warteten Schlag auf Schlag die nächsten Abwesenheiten: Kletterkurse, Kennenlernwochenende mit meinen Nepalgästen für 2023, eine Woche Klettern im Battert

Ich hatte von diesem Gebirgskleinod im Schwarzwald noch nie etwas gehört. Es ist aber auch zu klein und vor allem zu weit weg. Und wir haben ja immerhin mit der Sächsischen Schweiz das größte und schönste Klettergebiet Deutschlands direkt vor unserer Haustür. Da ist diese Ignoranz womöglich entschuldbar.

Doch nun gehöre ich selbst zu denen, die vom Battert schwärmen, unter anderem auch, weil es ideal geeignet ist, um dort mit Klettergästen unterwegs zu sein.

Schwärmen werde ich in Zukunft auch von Kroatien. So viel steht fest. Und das habe ich Christina zu verdanken. Kroatien stand irgendwie nie auf meiner Klettergebietskennenlernwunschliste, und deshalb wäre ich dort auch so schnell nicht vorbei gekommen. Aber Christina wollte in dem Land an der Adria mit ihrem Lebensgefährten klettern und mich zum zweiten Mal in diesem Jahr dabei haben.

Mit ihr und ihrem Bruder Thomas haben wir ja im Juni schon eine tolle Tour auf dem Mer de Glace in Chamonix unternommen. Nun sollte das größte Klettergebiet Kroatiens, Paklenica, unser Ziel sein. Im Oktober waren wir dort, und ich weiß jetzt schon, dass es ganz bestimmt nicht lange dauern wird, bis ich wieder zum Klettern nach Kroatien fahren werde.

Im November war ich dann tatsächlich als einzigem Monat des vergangenen Jahres komplett zu Hause, wurde aber von Tag zu Tag nervöser, weil Jahres-Höhepunkt Nummer 3 immer näher rückte.

Zwei Mal musste ich die Premiere meiner neuen Multivision über die erfolgreiche Besteigung des 8080 m hohen Hidden Peaks im Jahr 2019 verschieben. Das schreibt sich so leicht dahin, bedeutete aber einen Haufen Frust, Arbeit und Kosten. Es sollte natürlich unbedingt ein großartiger Abend werden! Aber nervös war ich vor allem aus einem anderen, sehr profanen Grund.

Das Zeitgeschichtliche Forum hatte mich nach einer jahrelangen freundschaftlichen Zusammenarbeit wissen lassen, dass ich den Saal dort trotz fester Zusage aus der Vorcoronazeit nicht mehr nutzen darf. Darüber habe ich mich sehr geärgert. Aber nun musste rasch ein neuer Saal her. Und weil es ein besonderer Abend werden sollte, habe ich den Mendelssohn-Saal im Gewandhaus gemietet.

Doch damit das kein finanzielles Debakel wird, musste der Saal möglichst ausverkauft sein. Aber ob das auch klappen würde, war alles andere als sicher. Und noch jetzt beim Schreiben fällt mir einmal mehr ein Stein vom Herzen, dass wir das tatsächlich hinbekommen haben.

Im Nachhinein betrachtet war die Premiere von HIDDEN PEAK 8080 im Gewandhaus zu Leipzig eine meiner großartigsten Vortragsveranstaltungen in den 24 Jahren, die ich das nun schon vor Publikum mache.

Das letzte Event des Jahres im Dezember wird mir ebenfalls noch eine ganze Weile in Erinnerung bleiben. Klaus wollte klettern. Ich sollte ihn begleiten. Wir freuten uns auf sonnenbeschienene Wände weit im Süden Europas.

Ich bereitete mich darauf vor, Klaus die schönsten Kletterspots an der südspanischen Costa Blanca zu zeigen. Und er wollte das auch. Dort kannte ich mich aus, dort wusste ich, wo die schönsten Routen sind und wie man am schnellsten zu den Einstiegen kommt. Doch genau einen Tag vor unserer Abreise disponierte Klaus um. Er mochte plötzlich doch lieber ins südgriechische Sportklettergebiet Leonidio fahren, wo er keine drei Wochen zuvor schon einmal gewesen ist.

In Leonidio kannte ich mich nicht aus, weil ich noch nie dort war. Eigentlich mache ich das äußerst ungern, irgendwo hinfahren, wo ich eben nicht Bescheid weiß. Aber einen Vorteil hatte das Ganze dann doch. So lernte ich ein neues Klettergebiet kennen, von dem ich schon viel gehört hatte.

Leonidio avancierte in den letzten Jahren zu einem regelrechten Sportklettereldorado. Diese Tatsache allerdings war nicht gerade dazu geeignet, meine Motivation und die Vorfreude ausufern zu lassen. Ich bin nun mal kein Sportkletterer, der 10 oder 12 Routen am Tag abspult und am Abend nicht mehr weiß, was er am Morgen geklettert ist, weil sich eine Tour wie die andere anfühlt.

Nun diese Gefahr besteht in Leonidio durchaus, aber dieser Ort bzw. die Region rund um ihn an der Ostküste der Halbinsel Peloponnes hat soviel mehr zu bieten als nur langweiliges Bohrhakenklinken. So ist es auch kein Wunder, dass ich mir fest vorgenommen habe, möglichst schon in diesem Jahr dorthin zurückzukehren.

Was für ein Jahr! Fast sieben Monate in sieben verschiedenen Ländern unterwegs! Mit den Erfolgen am Laila Peak und am Piz Badile sowie der Vortragspremiere im Gewandhaus gab es gleich drei großartige Highlights! Und doch sind es die intensiven Begegnungen mit den Menschen, die sich mir anvertrauen oder mit mir gemeinsame Projekte realisieren, die mich am nachhaltigsten faszinieren.

Ich danke Euch vor allem für Euer Vertrauen, die guten Gespräche, eure Gedanken, die ihr mit mir geteilt und die neuen Perspektiven, die ihr mir eröffnet habt. Ich durfte viel von Euch lernen. Das geht nur auf solchen gemeinsamen Touren in den Bergen, außerhalb der Komfortzone. Hier lernt man sich zwangsläufig besser kennenlernen als das in der Ebene möglich ist, weil man beim Kampf gegen die Schwerkraft nicht immer seine Masken aufbehalten kann.

Ich wünsche Euch ein gesundes, aufregendes, ein spannendes und vor allem unfallfreies neues Jahr am besten zwischen oder auf den Bergen dieser Welt.

Mir wünsche ich, dass Ihr mir treu bleibt!

Wir sehen uns!

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4 Antworten

  1. Helmut Hartmann sagt:

    Hallo lieber Olaf, Alter ist doch immer relativ und abhängig von der persönlichen Vita. Deshalb würde ich mir da keine Gedanken machen und jeden Tag als gegeben ansehen. Solange du dich fit und im Herzen jung fühlst gibt es keine Begrenzung deiner Aktivität, evtl. eine Anpassung… Aber wenn ich dich ansehe wirst du eher jünger als älter. Dein Pensum ist ja immens und zeugt von fast ewiger Jugend (naja so ähnlich halt). Also Mut zur Lücke und du weißt ja, sechzig ist das neue vierzig! Grüße der Helmut

  2. Claudia sagt:

    Ich bin immer wieder sehr dankbar mit Dir als Guide und Vorsteiger unterwegs sein zu dürfen. Deine Abwägungen, Deine Erfahrung und Deine Hinweise, wie man diese Herausforderung angeht, vermittelt eine Sicherheit, die auch über die Momente trägt, in denen man selber nicht an sich glaubt oder unsicher ist.
    Freu‘ mich schon auf unsere nächste Tour.
    Glaub‘ mir, Alter ist nur eine Zahl – jung bleibt, wer sich unvoreingenommen und mutig den Herausforderungen unserer schnelllebigen Zeit stellt – dafür bist Du das beste Beispiel.

  3. Hartmut Halang sagt:

    Hallo, lieber Olaf, interessant über Dein Kletterjahr 2022 zu lesen. Einen kleinen Berührungspunkt hatten wir ja im Mendelssohnsaal. 2 Jahre Karten aufgehoben und dann mit den „Verfallenen“ hineinzukommen, da ich die umgetauschten Karten weggelegt hatte (!!!) Das gab mir noch hinterherher einen Stich ins Herz. Aber ich lebe noch! Vor Deinem herrlichen Vortrag habe ich noch meinen Trekkingkumpel Detlef W. von unserer gemeinsamen Tour in das Khumbu 2002, als wir Heinrich aus Hamburg retteten, nach 20 Jahren wieder gesehen! – Und schließlich von meinem Buchprojekt „120 Jahre Bergsteigen in Leipzig“ 3 Bücher verkauft!!! Ich könnte davon auch nicht leben! – Aber wir werden alle älter, wie Du so schön am Anfang schriebst und dann geht es mal nicht mehr. Ich empfehle für die Kniegelenke schon im voraus Rubax.
    Ich wünsche Dir noch ein langes Kletterleben!
    Hartmut

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