In uneigener Sache: Mingmar

Es geschieht nicht oft, dass man jemanden zu kennen glaubt, weil man jahrelang intensiven Umgang hatte und dann feststellen muss, dass man sich irrt. Mir ist das gerade passiert. Wie viel häufiger wird es wohl so sein, dass man jemanden zu kennen glaubt, jedoch nie erfährt, dass hinter diesem Menschen so viel mehr steckt, als man dachte.

Vor ein paar Jahren gab es bei meiner Partneragentur in Nepal Veränderungen. Ein Zerwürfnis der zwei Geschäftsführer führte dazu, dass einer der beiden eine neue Agentur gründete. Mein langjähriger Co-Guide Te Kumar teilte mir mit, dass er zu dieser neuen Agentur wechseln wolle. Ich musste mich entscheiden. Wollte ich weiter mit Te Kumar zusammenarbeiten, musste ich meine bewährte Agentur verlassen und mich der gerade neu gegründeten anvertrauen. Diese Entscheidung fiel mir damals vor etwa fünf Jahren sehr schwer.

Letztendlich entschied ich mich für meinen langjährigen, treuen Co-Guide Te Kumar. Heute weiß ich, dass diese Entscheidung goldrichtig war. Aber das ich heute so sicher in der Beurteilung dieser Entscheidung bin, liegt nicht an Te Kumar. Was ich an ihm hatte, wusste ich ja. Es liegt an der neuen Agentur und Ihrem Gründer Mingmar Sherpa.

Mingmar Sherpa in seinem Büro in Kathmandu.

Von Beginn an hat mich die Art und Weise, wie er die Geschäfte seiner neu gegründeten Firma führte, sehr beeindruckt. Absolut verlässlich, transparent, mit großer Umsicht und vor allem beeindruckender Sachkenntnis in buchstäblich allen Belangen. Das ist nicht selbstverständlich, ganz im Gegenteil.

Es ist in Nepal nicht anders als überall auf der Welt. Wenn man draußen in der Praxis unterwegs ist, dann trifft man auf allerlei Unwägbarkeiten und Probleme, mit denen sich die Leute am Schreibtisch (im fernen Kathmandu oder sonst wo) einfach nicht auskennen. Sie verstehen in der Regel nicht einmal, wovon man eigentlich spricht. Sie wissen nicht, welchen Konsequenzen man gegenüber steht, wenn in meinem speziellen Fall vielleicht Träger streiken, Wetterkapriolen Planänderungen erzwingen, Leute höhenkrank sind, Pässe unpassierbar werden oder ein Unfall geschieht. 

Kein Zuckerschlecken, vor allem für die Träger. Wenn sie hier alles stehen und liegen lassen, dann ist guter Rat wirklich sehr teuer!

Ganz anders Mingmar. Er weiß, wovon die Leute, welche von „draußen“ aus der Praxis kommen, reden. Er kennt sie alle, die Probleme. Er hat alles schon erlebt. Und das liegt an seiner sehr beeindruckenden Biographie.

Mingmar wurde 1968 in einem kleinen Dorf auf 3300 m im Solu-Khumbu-Gebiet im Nordosten Nepals geboren. Er war das fünfte von zehn Kindern. Seine Eltern waren arme Bauern. Die Familie lebte gemeinsam mit Ziegen, Schafen und einer Kuh in einem Stall. Um etwas Geld zu verdienen, war der Vater öfter in Tibet und holte von dort Salz, um es zu verkaufen oder gegen Nahrung zu tauschen. So war Mingmar mit seiner Mutter und seinen Geschwistern oft allein.

Ausgerutscht, hingefallen, Hand gebrochen. Wenn in einem solchen Fall keine handlungfähige Agentur sofort alles nötige in die Wege leitet, hat man als Guide vor Ort ein Problem. Aber auf Mingmar ist hundertprozentig Verlass. Helikopter, Notversorgung in Kathmandu, Heimflug alles innerhalb weniger Stunden erledigt!

Als Mingmar 8 Jahre alt war, ging er für sechs Monate zur Schule. Er lernte in dieser Zeit, seinen Namen zu schreiben. Dann entschieden die Eltern, dass er nicht länger zur Schule gehen könne, weil er auf dem Feld und beim Hüten der Tiere helfen müsse.

Nur einige Monate später verließ Mingmar sein Elternhaus, um in Namche Basar in einem Teehaus zu arbeiten. Er verdiente 10 Rupies am Tag bei freier Kost und Logie. Das gesamte Geld, welches er verdiente, sandte er an seine Familie.

Im Alter von nur 12 Jahren, begann sich Mingmar als Träger für Trekkings und Expeditionen zu verdingen. Er arbeitete auch als Yaktreiber und als Postläufer für Everest-Expeditionen. Für diesen Job musste er in nur einem Tag mit der Post vom Basislager 55 Kilometer weit zum Flugplatz nach Lukla laufen und am nächsten Abend zurück im Basislager sein. Wenn das Wetter schlecht war und keine Flugzeuge flogen, musste er sogar bis nach Jiri laufen. 

Es ist ein trauriger und kaum zu ertragender Anblick, wenn Kinderkörper der Tortur des Lastentragens ausgesetzt sind.

Außerhalb der Trekking- bzw. Expeditionssaison war Mingmar im Haus des Bürgermeisters von Khumjung angestellt. Das ist die größte Siedlung im Sherpaland. Er kochte, wusch, half auf dem Feld und kümmerte sich um die Yaks. Der Sohn des Bürgermeisters, Ang Tshering Sherpa, gründete eine Trekking-Agentur, in welcher Mingmar nun als Träger, später als Küchenhilfe und Koch arbeitete. Diese Agentur, „Asian-Trekking“, ist heute eine der größten und bedeutendsten nepalesischen Agenturen.

Während seiner Arbeit lernte Mingmar viele seiner Gäste sehr gut kennen und diese ihn. Vor allem aber lernten die Gäste, seine Arbeit zu schätzen. Die Kraft, Ausdauer, Härte und besonders die Widerstandsfähigkeit der Sherpas in großen Höhen sind legendär. Schon 1988 wurde er von einem Gast nach Deutschland eingeladen. Damals hatte Mingmar Nepal noch nie verlassen, konnte kein Englisch, war noch nie Auto gefahren. Und nun saß er in einem Düsenclipper und fand sich plötzlich in Frankfurt am Main wieder. Ich versuche, mir das gerade vorzustellen, aber es kann mir nicht gelingen.

Unsere Küche auf dem Eis des Khumbu-Gletschers am Everest. Das ist der Lebensmittelpunkt über Monate für den Expeditionskoch. Gerade am höchsten Berg der Welt, wo sehr früh losgelaufen wird, weil der Khumbueisbruch mit zunehmender Sonneneinstrahlung immer gefährlicher wird, muss der Koch eigentlich rund um die Uhr arbeiten.

In den nächsten 15 Jahren wurde Mingmar immer wieder von Gästen eingeladen. Er arbeitete in Deutschland als Zimmermann und Koch, absolvierte in Österreich Trainings als Koch und Bergführer, besuchte die Schweiz. Mingmar lernte Englisch und Deutsch.

Weil er schon 26 Jahre alt aber noch immer nicht verheiratet war, wurde für ihn von seinem älteren Bruder und einem Onkel eine Ehe arrangiert. Er heiratete Nima Sherpa aus einem Dorf in der Nähe seiner Heimat. Ein Jahr später kam sein Sohn, Ang Nuru, zur Welt.

Im Jahr 2003 beendete Mingmar die Arbeit bei Asian Trekking. Ein guter Freund von ihm, den er seit einigen Jahren kannte, Nima Dawa Sherpa, schlug ihm vor, gemeinsam eine Trekkingagentur zu gründen. Nun arbeitete Mingmar für seine eigene Agentur. Durch die guten Kontakte Mingmars nach Deutschland und in die Schweiz, gewannen Nima und Mingmar dort rasch Partneragenturen, die nun Gäste schickten. Und auch ich war vom ersten Tag an ein Partner dieser neu gegründeten Agentur.

Egal bei welchem Wetter und bei welchen Bedingungen, die Träger und die Köche bei langen Treks oder auf Expeditionen können sich nicht einfach in Luft auflösen. Manchmal arbeiten sie unter Verhältnissen, die wir mit unseren Maßstäben als absolut unzumutbar ansehen würden. Ich hielt es schon viele Male für ein Wunder, wie gleichmütig diese Leute Schwierigkeiten wegstecken, leiden ohne zu Klagen und ihre Angst einfach weglachen. Ich habe viel von meinen Sherpas gelernt. (Im Bild der Abstieg vom Mera-La nach Khare.)

Die neue Agentur wuchs. Mit der finanziellen Unterstützung eines deutschen Reiseveranstalters wurde ein Hotel gebaut. Die Agentur gewann sehr rasch an Größe und Format, organisierte bald nicht nur Trekkings sondern auch große Expeditionen.

Doch dann passierte eine völlig unvorhergesehene Katastrophe. Mit nur 38 Jahren starb der Partner Mingmars an Herzversagen. Die Lücke, die Nima hinterließ, war kaum zu schließen. Er war der Kommunikator, der Rechner, der gebildete charismatische Kopf des Unternehmens, während Mingmar mit seinen Erfahrungen und der komplett fehlenden Schulbildung der Mann „draußen“ in der Trekking- und Expeditionspraxis sein konnte. Die beiden ergänzten sich gut. Doch wie sollte es nun weitergehen?

Nima wurde durch einen zweiten Geschäftsführer ersetzt. Das Hotel wurde von Nimas Frau Pema geleitet, welche sich nun in kurzer Zeit das gesamte Know-how aneignen musste, um diese übergroße Aufgabe bewältigen zu können.

Nima 2002 bei der Vorbereitung meiner Erstbesteigung des 6677 m hohen Num Ri. Nima war ein äußerst kluger, eloquenter Mann mit großer Ausstrahlung. Sein plötzlicher Tod hat uns alle sehr erschüttert.

Obwohl das Unternehmen weiter florierte oder womöglich gerade deshalb, gestaltete sich das Verhältnis der führenden Köpfe innerhalb der Firma zunehmend schwieriger. Die zum Teil heftigen Streitigkeiten blieben leider auch mir nicht verborgen. Man versuchte nicht einmal, sie zu verbergen.

Deshalb löste sich Mingmar 2017 von der mit Nima gegründeten Agentur und gründete seine eigene, die er Boss-Adventure nannte. Ich war damals sehr erstaunt über die Tatsache, dass mein Co-Guide Te Kumar mir sofort mitteilte, dass er nicht mehr für mich arbeiten könne, wenn ich bei meiner langjährigen Agentur bliebe. Nur ein einziges Jahr konnte ich ihn mit großer Mühe dazu überreden, noch einmal mit mir zu gehen. Dann lehnte er es ab, dies weiter zu tun, wenn ich nicht zu Boss-Adventure „überlaufen“ würde.

Heute weiß ich, dass Te Kumar sehr wohl wusste, was er tat. Er hatte sicher die weitaus besseren Einblicke in die Abläufe und Verantwortlichkeiten in der alten Agentur. Er versuchte mich zu überzeugen, ihm zu folgen. Aber ich hatte damit große Probleme, denn Loyalität ist für mich ein hohes Gut. Doch ich konnte und wollte auf die Erfahrung und das freundliche Wesen von Te Kumar nicht verzichten. Und deshalb folgte ich ihm zu Mingmar und seiner neuen Agentur Boss-Adventure.

Wettersturz auf dem Weg zum Amphu Laptsa. Das ist ein Pass, der in das Imja-Valley führt und der 2015 unpassierbar war. Wir standen kurz davor, uns mit dem Hubschrauber bergen zu lassen. Aber ich konnte unmöglich meine Träger dort zurücklassen. Deshalb kämpften wir uns mit der tatkräftigen Unterstützung meiner damaligen Gäste aus dieser Situation selbst heraus.

Diese Geschichte von Mingmar, dem Analphabeten, der schon mit 9 Jahren sein Elternhaus verlassen musste, um für den Lebensunterhalt seiner Familie zu arbeiten und schon mit 12 Lastenträger wurde und der sich dann mit ungeheurem Fleiß und enormer Hartnäckigkeit bis zum Chef einer eigenen Agentur hochgearbeitet hat, beeindruckt mich sehr.

Mingmar spricht fließend Deutsch und Englisch. Er ist inzwischen sowohl draußen in der Praxis als auch sonst in sämtlichen Belangen, die Organisation von Trekkings und Expeditionen betreffend, der perfekte Ansprechpartner. Trotzdem ist er persönlich auch immer präsent. Er lässt es sich nicht nehmen, mich und meine Gruppen sowohl bei der Ankunft als auch bei der Abreise persönlich zu empfangen bzw. zu verabschieden. Auch bei der buchhalterischen Aufarbeitung der Touren ist er immer persönlich mit am Schreibtisch.

Sein Sohn ist inzwischen mit in die Firma eingestiegen und wird ihn hoffentlich in Zukunft entlasten.

Ich wünsche Mingmar und seiner Firma viele nette, trittsichere und höhentaugliche Klienten, keine Unfälle, keine Höhenprobleme, keine Wetterstürze und einen tatkräftigen, motivierten Sohn, der weiß, wie privilegiert er ist und welcher den Laden demnächst im Sinne seines Vaters und genauso tatkräftig und fleißig weiterführt.

Und uns allen wünsche ich eine unverwüstliche Gesundheit ohne die alles nichts ist !

Zu den Blogbeiträgen über meine letzte Nepaltour, welche vorige Woche zu Ende ging und die ohne Mingmar und seine Firma nicht so reibungslos abgelaufen wäre.

Nepal 2023 – das Jubiläum

Wie ein Schweizer Uhrwerk

Was macht Anna

In meinem Revier

Starke Entscheidung

Wiedervereinigung

Die Stirn des Ozeans

Das Leben ist schön

Abenteuer Himalaya

 

 

 

 

 

Das könnte dich auch interessieren …

4 Antworten

  1. Ute sagt:

    Lieber Olaf, der Weg von Mingmar ist sehr beeindruckend und berührend. Was für eine Lebensgeschichte!!! Danke dass Du sie mit uns teilst. Und wie schön dass ihr alle wohlbehalten wieder zurückgekommen seid. Es war, wie immer, eine große Freude von der Reise zu lesen und dadurch in alten Erinnerungen zu schwelgen 🙂
    viele liebe Grüße!

  2. Peter Gschwendtner sagt:

    Lieber Olaf
    Herzlichen Glückwunsch zu Deinem tollen Bericht über die wahrhaftig tollen Menschen, allen voran Mingmar, Te Kumar, Lila, Chhokpa, die Pasangs, Chiri wie die verlässlichen, erfolgreichen
    und treuen Menschen von Mingmars Unternehmen alle heissen und sein Unternehmen prägen und präsentieren!
    All diese Eindrücke, durfte ich zeitgleich mit Dir seit Ende der 90er Jahre, obwohl aus einer andern Richtung Europas (der Schweiz) erleben.
    Dieser Mingmar, welcher mit seiner Sozialkompetenz, Bescheidenheit, Respekt, großem Engagement, Aufopferung, eines für mich an Verlässlichkeit unübertreffliches Trekkingunternehmen Nepals aufgebaut hat, verdient diese gut von Dir verfasste Hommage!
    Gratuliere!
    Mit kameradschaftlichen Grüssen
    Peter Gschwendtner

  3. Te kumar rai sagt:

    I value and respect In sharing this great story and your opinion, your kind works warmed my heart

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen