Unverfroren Teil 2

Der Wecker klingelt früh um 5 Uhr. Das Thermometer zeigt 19 Grad unter Null. Es ist stockfinster. Ich kann meine Stirnlampe nicht finden. Arbeit in der Route steht an: Das erste, an was ich denke, nachdem ich die renitente Lampe endlich gefunden habe, sind meine Schuhe, das zweite eine Gaskartusche. Die Schuhe stehen in einem Stoffbeutel verpackt griffbereit im Zelt neben dem Schlafsack, ebenso die Kartusche.

Der Westgrat am Shivling mit dem Standort von Lager 2 am Beginn des Grates. (Foto: Jimmy Chin)

Ich hole beides als erste Amtshandlung des Tages in den Schlafsack. Schuhe und Kartusche schon am Abend dort hinein zu tun, kommt für mich nur an Gipfeltagen in Frage. Ansonsten mag ich möglichst mit niemandem meinen Schlafsack teilen. Schon gar nicht mit klobigen Bergschuhen und einer Gaskartusche. Auch meinen Pullover hole ich in den Schlafsack. Langsam wird es dort voll. Meine Daunenjacke und ein paar dünne Handschuhe ziehe ich an. Übrigens hatte ich meine Daunenjacke mit zugezogenem Reissverschluss über das Fußende meines Schlafsackes gestülpt.

Davon kann man in einem winzigen Expeditionszelt hoch oben am Berg nur träumen. Meine Gäste bei einer Trekkingtour in Nepal sitzen gemeinsam mit unseren Trägern im urgemütlichen Dinningroom meines Freundes Kharma Rita Sherpa (links) in Phortse.

Als nächstes kippe ich heißes Wasser, welches ich über Nacht in der Thermoskanne aufbewahrt hatte, in zwei kleine, flache Aluflaschen, die ich in die Schuhe lege. Denn wenn man seine Füße in auf minus 10 oder 15 Grad abgekühlte Schuhe steckt, werden selbst warme Füße schockgefrostet und man kann getrost davon ausgehen, dass sie auch den ganzen Tag nicht wieder warm werden.

Nun döse ich noch für ein paar Minuten vor mich hin, wobei ich die Kartusche mit meinem Körper aufwärme, denn nur dann funktioniert sie in dieser Kälte auch anständig. Nach zehn oder fünfzehn Minuten schraube ich sie an den Kocher und mache ihn an. Ich benutze ihn im Zelt, was extreme Vorsicht erfordert!! Ich muss unbedingt für ausreichende Belüftung sorgen, sonst droht Vergiftungsgefahr. Außerdem muss ich ständig darauf achten, dass der Kocher mitsamt Topf nicht umfällt. Denn dann habe ich nicht nur eine Riesenschweinerei im Zelt sondern es fackelt womöglich auch noch ab. Aber mit einem laufenden Kocher wird es wenigstens ein bisschen warm im Zelt.

Man sollte hellwach sein, wenn Schnee geschmolzen und die Flaschen vollgekocht werden! Der Kocher steht kippsicher im Vorzelt. Und kippt er doch, ist das Malheur nicht so groß wie im Zelt.

Als erstes koche ich warmes Wasser aus einer zweiten Thermosflasche und habe so innerhalb von zwei Minuten mein erstes heißes Getränk. Während ich trinke, schmelze ich Unmengen von Schnee. Das dauert. Sobald Wasser heiß ist, fülle ich die beiden nun leeren Thermosflaschen auf. Nebenbei frühstücke ich. Einfacher gesagt als getan, vor allem, wenn man nicht darauf geachtet hat, dass Nahrungsmittel an Bord sind, die eben nicht zu Stein gefrieren bei diesen Temperaturen. Da ich Brot und Käse liebe und kein Müslifan bin, haben diese Sachen dann doch im Fußende meines Schlafsackes übernachtet.

Das alles mache ich noch im Schlafsack liegend. Doch nun muss ich wohl oder übel dort raus! Als erstes stelle ich den Kocher ins Vorzelt. Beim Klamottenanziehen fällt er sonst ganz sicher um. Sämtliche Kleidungsstücke einschließlich der Bergschuhe ziehe ich im Zelt an. Das ist so mühsam, dass mir regelrecht warm dabei wird. 

Das zweite Hochlager am Shivling noch mitten in der Nacht. Hinten links der Mount Meru. Im Nachbarzelt sieht es schon gut aus. Auch dort sind Jacob und Sven so gut wie abmarschbereit.

Bei den besonders wichtigen Schuhen müssen wir uns noch kurz aufhalten. Ich achte penibel darauf, dass es auf keinen Fall zu eng in meinen Bergschuhen wird. Die Füße müssen gut beweglich sein. Viele Strümpfe übereinander kommen bei mir nicht vor. Ich achte vor allem darauf, dass meine Schuhe innen ja nicht nass werden. Deshalb benutze ich manchmal eine Dampfsperre. Das kann eine dünne Plastiktüte zwischen zwei dünneren Strumpflagen sein oder entsprechende Strümpfe, die sowas schon eingebaut haben. So werden zwar die Füße, nicht aber die Schuhe nass. Und da ja irgendwann vielleicht doch die Sonne zum Vorschein kommt und Wärme spendet, ist es zweckmäßig, trockene Strümpfe dabei zu haben, um die innere Strumpflage wechseln zu können.

Den lauwarmen Inhalt einer der beiden kleinen Aluflaschen, mit der ich die Schuhe aufgewärmt hatte, trinke ich aus. Den Inhalt der anderen mache ich wieder heiß, schütte Getränkepulver hinein und stecke die Flasche in die Brusttasche meiner Daunenjacke. So habe ich einen kleinen Heizofen direkt am Körper, an dem ich mindestens die nächsten anderthalb Stunden auch meine Hände wärmen kann, wenn sie gar zu kalt geworden sind. Kurz bevor der Inhalt dieser Flasche ganz kalt geworden ist, trinke ich auch diese aus.

Den Aufstieg durch den Gasherbrum-Eisbruch am 8080 m hohen Hidden Peak 2019 begannen wir aus guten Gründen immer in stockfinsterer Nacht. Hier kann es schon mal ordentlich kalt werden. Aber diesen Aufstieg starteten wir vollgefressen, ausgeruht und warm.

Den Rucksack habe ich schon am Vortag schön in der Sonne komplett mit allem, was wir für den Tag benötigen, gepackt. Es ist nun halb Sieben, ich bin startklar. Egal wo und mit wem ich unterwegs bin, ich lege größten Wert darauf, dass alle pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt startklar sind. Denn unbeweglich in der Kälte zu stehen und auf einen Trödelsack zu warten, macht die ganzen Bemühungen, aufgewärmt mit der körperlichen Aktivität zu beginnen, zunichte!

Draußen ist es schneidend kalt. Ich muss sämtliche Hautpartien schützen, die mit dieser Kälte in Berührung kommen können. Besonders sorgfältig kümmere ich mich um mein Gesicht. Nasenspitze oder Ohrläppchen sind im Nu abgefroren. Eine gute Gesichtsmaske ist bei mir immer dabei.

Ein ganz andere Sache ist es, wenn man schon mehrere Nächte in Hochlagern hinter sich hat. Hier brechen Sven Kortmann und ich vom 7100 m hoch gelegenen Lager 3 am Hidden Peak zum Gipfel auf. Zwei Nächte hatten wir dort oben hinter uns, eine weitere in Lager 2 auf 6400 m. Da ist die körperliche Ausgangslage eine ganz andere als auf dem vorherigen Foto. So hoch oben muss man sehr viel Erfahrung mitbringen, um seine körperliche Situation richtig zu beurteilen und vor allem die angemessenen Schlüsse daraus zu ziehen.

Die Hände sind oft das größte Problem. In dicken Fäustlingen sind sie am besten geschützt. Nur kann man damit rein gar nichts machen: Steigeisen anlegen, die Steigklemme ein und aushängen, Fixpunkte bauen usw. Ich bevorzuge deshalb gut isolierende Fingerhandschuhe unter denen ich dünne Wollhandschuhe trage. Mit diesen Handschuhen kann ich mit ein wenig Übung das meiste bewerkstelligen. Die dünnen Handschuhe sind deshalb wichtig, um den Überhandschuh auch mal ausziehen zu können, ohne gleich die bloßen Hände der Kälte auszusetzen. Beim Fotografieren zum Beispiel wird das sogar recht oft notwendig sein. Allerdings muss ich unbedingt darauf achten, dass der Überhandschuh nicht abhanden kommt. Das kann einem die Hände kosten, siehe die fingerlosen Hände von Kim Hong Bin im Teil 1. Außerdem gehören grundsätzlich ein paar Ersatzhandschuhe in den Rucksack.

In solchen Situationen droht immer Gefahr. Dessen sollte man sich in jedem Augenblick bewusst sein. Der Sturm rast über den Grat, der Spindrift peitscht einem ins Gesicht, die Erfrierungsgefahr steigt rasant an. Dieses Foto stammt vom Gipfelgrat des 6189 m hohen Island Peaks.

Bei besonders großer Kälte müssen es doch Daunenfäustlinge sein. Solche hatte ich bei meinen sechs 8000er Expeditionen dabei. Allerdings ist es bei solchen Handschuhen von Vorteil, wenn die Handflächen dieser Handschuhe mit einer anderen Isolation als Daune versehen ist. Sie muss möglichst auch dann noch funktionieren, wenn wir Stöcke oder Eisgeräte in der Hand haben. Daunen werden dadurch zusammengepresst und isolieren nicht mehr. Vor allem die Fingerspitzen werden dann rasch kalt. 

Außerdem ist es wichtig, permanent auf seine Hände und Füße zu achten. Sind sie warm oder kalt? Kann ich sie fühlen oder nicht? Bekomme ich sie wieder warm, wenn ich zum Beispiel meine Finger an meiner Halsschlagader oder unter meinen Armen wärme? Oder wenn ich meine Arme wie wild kreisen lasse? Oder wenn ich mit grimmiger Inbrunst meine Zehen immer und immer wieder zusammen kralle oder meine Beine hin und her schwinge? Wenn wir sie nicht mehr fühlen und es auch nicht schaffen, dass wir sie wieder fühlen, sollten auf der Stelle sämtliche Alarmglocken schrillen, und wir müssen handeln.

Alexander und ich hoch oben bei unserer Erstbesteigung des 6138 m hohen Chukhung Tse mit dem Teleobjektiv vom Lager 1 aus aufgenommen. Wenn eh schon strenger Frost herrscht, dann wird stürmischer Wind den Einfluss der Kälte noch einmal deutlich verstärken. Vom Windchill hat jeder schon gehört. Dieser Begriff bezeichnet ein Maß für die Wärmeverlustrate. Und wir können uns dass ja auch gut vorstellen. Der Wind bläst uns die vom Körper produzierte Wärme von der Haut, und wir empfinden die Umgebungstemperatur kälter als sie wirklich ist. (Foto: Karin Mehlhase)

Enorm wichtig ist bei großer Kälte, dass ich dafür sorge, meinem Körper in regelmäßigen und nicht zu langen Abständen leicht verdauliche Energie zuzuführen. Früchteriegel, die ich am Körper trage oder auch Traubenzuckertabletten sind meine bevorzugte Energiequelle. Diesbezüglich ist es klug, diese Dinge leicht zugänglich aufzubewahren, die Tabletten zum Beispiel unverpackt in der Außentasche. Wenn ich Fotos mache und die dicken Handschuhe ausziehen muss, kann ich schnell eine Tablette einwerfen oder einen Riegel essen. Dazu muss ich mich auch dann zwingen, wenn die Bedingungen mich eigentlich davon abhalten wollen und ich nur noch eines will: So schnell wie möglich weg von diesem Berg, raus aus dieser Kälte und diesem hundsmiserablen Wetter und rein ins Zelt. Und natürlich darf ich auch das Trinken nicht vergessen, schon ganz und gar, wenn ich in großer Höhe unterwegs bin. Übrigens ist es natürlich schlau, wenn auch in unseren Getränken möglichst viel leicht verdauliche Energie steckt.

In über 8000 m Höhe am Hidden Peak bei meiner erfolgreichen Besteigung 2019. Solche Verhältnisse in dieser Höhe nach drei Tagen in der Todeszone sind äußerst kritisch.

Auch achte ich penibel darauf, trocken zu bleiben. Fast immer habe ich trockene Unterwäsche dabei, denn ich weiß ja, dass irgendwann die Sonne doch zum Vorschein kommt. Und dass, so unglaublich es auch klingt, aus 20 Grad Frost 20 Grad plus werden können. Eben noch wie ein Schneider gefroren und eine Stunde später ist die ganze Unterwäsche nass vom Schweiß. Und wenn dann die Sonne wieder verschwindet, kann es äußerst hilfreich sein, wenn ich die Unterwäsche oder wenigstens das Unterhemd vorher noch schnell wechseln kann.

Das Tagwerk ist vollbracht, ich bin endlich wieder im Zelt angekommen und darf mich nun aber auf keinen Fall meiner Erschöpfung hingeben. Ich muss kochen, trinken, essen und so meine Energiereserven wieder auffüllen. Das ist unendlich viel wichtiger, als zu schlafen, obwohl ich eigentlich nur das will. Oft bedarf es beim ambitionierten Bergsteigen der größten Willensanstrengung, sich in genau dieser Situation nicht gehen zu lassen.

Ich ziehe trockene Sachen an, mache mich schlafsackfertig, koche im Schlafsack liegend. Wieder befülle ich als eine der ersten Handlungen nach meiner Rückkehr ins Zelt eine Aluflasche mit heißem Wasser, die mir jetzt und auch häufig in der Nacht im Schlafsack als Wärmflasche dient.

Über einen guten Daunenschlafsack geht nichts! Das Verhältnis von Gewicht, Packmaß, Wärmeleistung und Lebensdauer ist unübertroffen! Simona, Katrin und Janina kuscheln sich im Herzen des Karakorum in Pakistan im Zelt zusammen.

Ganz wichtig für die Regeneration ist eine gute Nacht. Ich muss sicherstellen, dass ich nicht friere und dadurch in der Nacht keine zusätzliche Energie verliere. Dazu brauche ich natürlich einen guten Schlafsack. Niemals sollte man am Schlafsack sparen. Ich achte peinlich darauf, dass der Luftaustausch zwischen innen und außen möglichst bei Null liegt. Wenn ständig von mir angewärmte Luft aus dem Sack raus und kalte dafür rein kommt, die ich nun wieder aufwärmen muss, verliere ich Energie. Also mache ich alles dicht, was geht. Oft atme ich auch mal ein Weilchen im Schlafsack, damit meine warme Ausatemluft die Luft im Schlafsack schneller erwärmt. Übertreiben sollte man dass aber nicht, weil unsere Ausatemluft sehr feucht ist.

Das Kochen ist vollbracht. Ich habe gut gegessen und mehr als zwei Liter getrunken. Ein Weilchen spiele ich noch mit meiner Wärmflasche im Schlafsack, schiebe sie runter zu den Füßen und dann wieder hoch, um sie mir auf die Brust zu legen. Nur noch meine Nase schaut ab und zu aus dem Schlafsack hervor. Langsam wird mir tatsächlich warm. Und dann schlafe ich sogar ein.

Es ist 5 Uhr! Der Wecker klingelt!

zu Teil 1

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2 Antworten

  1. Veronica sagt:

    So hautnah war ich noch nie bei einem Tag am Berg dabei. Eine sehr interessante Beschreibung!

  2. Christian Pech sagt:

    Hätten wir Deine Tipps vor 20-30 Jahren schon gelesen, wäre uns manche unangenehme Erfahrung erspart geblieben.
    Z.B. als wir im Dezember 1990 über den Baranec auf den Hauptkamm der Westtatra wollten. Der Wind auf dem Gipfel war so stark, dass wir uns nur auf allen Vieren bewegen konnten. Die Schnee- und Eiskristalle schmirgelten unsere Gesichter ab, wie sandgestrahlt. Eine Skibrille und ein Schal (oder Gesichtsmaske) hätten geholfen – hatten wir aber nicht.
    Im Dezember 1992 waren wir mit dem Zelt in der Hohen Tatra. In der Nacht waren es bestimmt auch um die -20°C. Im Schlafsack war es schön warm. Ein großes Problem dann am Morgen, war den Juwel-Kocher anzukriegen. Es baute sich einfach kein Druck auf, der Kocher ging immer wieder aus. Was also tun? Wir wollten ja Schnee schmelzen. In unserer Thermosflasche war noch etwas Tee. Also Schnee rein und geschüttelt. Der lauwarme Schneematsch ersetzte zwar keinen warmen Tee, aber wenn der Kocher nicht will … Seit dem kam der Kocher immer mit in den Schlafsack.
    Über den Jahreswechsel 2002/2003 machten wir eine Biwaktour im böhmischen Teil vom Zittauer Gebirge. War als Vorbereitung für den Island Peak gedacht. Silvesterabend suchten wir uns eine Mulde im Wald, spannten das Tarp darüber, rollten die Isomatten aus und krochen in die Schlafsäcke. Es war A…kalt. Kurz vor Mitternacht klingelte der Wecker. Schließlich wollten wir auf das neue Jahr anstoßen und hatten dafür extra eine kleine Pulle Sekt mitgenommen. Der Schaum vom Sekt gefror (!) in dem Moment, als wir den Sekt in die Tasse gossen. Gleich wieder rein in den warmen Schlafsack. Am Morgen dann kam das böse Erwachen. Meine Lederbergstiefel waren bockhart gefroren. Es dauerte ewig, bis ich die Füße drin hatte und bis sie durch das Laufen halbwegs aufgetaut waren.
    Seit dem kommen die Schuhe immer mit in den Schlafsack. Genauso wie alles Andere, was vor Kälte geschützt werden muss. Für einen selber muss aber auch noch Platz bleiben.

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