Maurice Wilson 1, Sein Antrieb

War er verrückt oder seiner Zeit um Jahrzehnte voraus? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Als ich mich näher mit seiner Geschichte beschäftigte, war ich in dieser Hinsicht tatsächlich hin- und hergerissen. Denn eines steht fest. Für einen komplett verrückten ist er weit gekommen.

Um die Geschichte des Maurice Wilson zu verstehen und richtig einordnen zu können, sind vor allem drei Ereignisse in seinem Leben von Bedeutung.

Das erste ereignete sich in der Hölle des Ersten Weltkrieges. Der Arbeitersohn aus dem englischen Bradford wird an vorderster Front bei Ypern eingesetzt und zeichnet sich durch besondere Tapferkeit aus. Schon nach vier Monaten Einsatz erhält Wilson die dritthöchste Auszeichnung der britischen Armee.

Maurice Wilson im Juli 1933 in Indien. (Quelle: Wikipedia)

Am 19. Juli 1918, gerade mal 20 Jahre alt, wird er auf einem Patrouillengang von zwei Scharfschützen getroffen. Eine Kugel durchschlägt seinen linken Oberarm, eine zweite trifft ihn von hinten in die Brust. Zeit seines Lebens ist er nun behindert, weil er den linken Arm fast nicht mehr benutzen kann. Trotz dieser schweren Einschränkungen erhält er keine Entschädigung. Das enttäuscht ihn zutiefst. 

Nach dem Krieg heiratet er zwei Mal, geht 1923 nach Amerika, später nach Neuseeland und kehrt 1931 wieder nach England zurück.

Und nun geschah das zweite Schlüsselereignis in seinem Leben. Wieder in der Heimat erkrankt er schwer an Tuberkulose und hat einen Nervenzusammenbruch. Die Ärzte sind ratlos, es steht mit ihm auf der Kippe.

Der Todgeweihte setzt nun seine letzte Hoffnung auf einen Heiler, der ihn mit der Methode des Betens und Fastens vertraut macht. Wilson gibt das Rauchen und Trinken auf, reduziert seine Nahrung immer mehr und unterzieht sich an einem unbekannten Ort einem 35tägigen Fasten. Er meditiert, betet, liest in der Bibel und trinkt in dieser Zeit nur reines Wasser. Nach 35 Tagen befindet er sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod, aber er weiß, dass er tatsächlich geheilt ist.

Bald darauf geschah das dritte Schlüsselereignis in Maurice Wilsons Leben. Im Herbst 1932 ist er in Deutschland. In Freiburg in einem Gasthof hat er sich einquartiert. Er fühlt sich so gut wie nie zuvor in seinem Leben.

Schlachtfeld bei Ypern. (Quelle: Wikipedia)

Auf der Terrasse eines Cafés liest er über die berühmte Everest-Expedition von 1924 auf der George Mallory und Andrew Irvine schon weit oben am Berg verschwanden. Im offiziellen Expeditionsbericht von Francis Younghusband stößt er auf diese Worte: „Mallorys Geist trieb den Körper in den Tod. Aber sein und Irvines Sterben hat die Flamme in Tausenden entzündet. Sie haben ihr Leben nicht nutzlos vertan, denn ihr heldischer Tod hat zahllose Menschen auf dem weiten Erdenrund zu neuen Taten begeistert.“

Der unstete, ruhelose Wilson hat plötzlich eine Eingebung. ER ist dazu berufen, den Everest zu besteigen. Er wird diesen ungeheuren Berg bezwingen. Er ganz allein! Er wird allen Menschen vor Augen führen, wie mächtig seine neue Lebensphilosophie ist. Er schreibt in sein Tagebuch Worte, die in heutigen Alpinistenohren sehr modern aber deshalb nicht weniger kühn klingen. Damals klangen sie vor allem verrückt: „Was ist denn der Nutzen von Großexpeditionen mit dreihundert und mehr Trägern und vielen Bergsteigern, wenn für die Aufgabe eigentlich nur ein Zelt, ein Schlafsack, warme Kleidung und Lebensmittel notwendig sind?“

Schützengraben mit britischen Soldaten im Ersten Weltkrieg. (Quelle: Wikipedia)

Als er diese Worte schreibt, hat Wilson noch nie einen Berg bestiegen, und er hat auch noch nie in einem Flugzeug gesessen. Aber das hält ihn nicht davon ab, im April 1933 öffentlich zu verkünden, dass er allein mit einem Flugzeug zum höchsten Berg der Welt fliegen wird, um ihn anschließend ebenfalls allein zu besteigen.

Und das erste, was er macht, ist, sich ein gebrauchtes Flugzeug, eine „Gypsy Moth“, zu kaufen. Er nennt es „Ever Wrest“, Ewiger Kampf. Sein Flieger war ein offener, einmotoriger Doppeldecker mit einem Holzrahmen, zwei Sitzen, 186 Kilometer in der Stunde Spitzengeschwindigkeit und einer Reichweite von 600 Kilometern.

Eine Havilland Gipsy Moth von 1933 wie Maurice Wilson sie gekauft hat. (Quelle: Wikipedia)

Wenige Tage nach diesem Kauf beginnt er Flugstunden in Englands renommiertestem Flugverein, dem London Aeroplane Club, zu nehmen. Es dauert länger als üblich bis Wilson die Steuerung seines Doppeldeckers halbwegs beherrscht, denn durch seine Kriegsverletzung am linken Arm ist er stark eingeschränkt. Keiner traut ihm als blutiger Anfänger diesen Flug um die halbe Welt zu, welcher selbst für die besten und erfahrensten Piloten jener Zeit die ultimative Herausforderung gewesen wäre.

Doch Wilson lässt sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Auch eine glimpflich verlaufende Bruchlandung, bei der seine Gypsy Moth schwer ramponiert wurde, kann ihn nicht bremsen. Auch nicht, dass ihm offizielle Stellen den Flug verbieten wollen und ihm die Genehmigungen verweigern.

Maurice Wilson vor seiner Ever Wrest Tage vor dem Abflug nach Indien. (Quelle: Wikipedia)

Gegen alle Widerstände startet Wilson in seiner „Ever Wrest“ am 21. Mai 1933 in Richtung Indien.

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4 Antworten

  1. Veronica sagt:

    Ich bin sehr gespannt, wie diese Geschichte weitergeht!

  2. Christian Pech sagt:

    Da hast Du ja wieder ein besonderes Stück Alpingeschichte ausgegraben! Es gibt bzw. gab schon verrückte Typen. Ich hatte zwar schon mal was darüber gelesen, aber eigentlich nur so am Rande.
    Nun bin auch ich sehr auf die Fortsetzung gespannt.

  3. Erhard Klingner sagt:

    Oh, Du bist gut, Olaf! Da ist ja hochinteressant! Weiter so, mehr!
    Danke sagt Dein Bergfreund Erhard
    (Jost Kobusch würde das auch sehr interessieren!)

    • Olaf Rieck sagt:

      Lieber Erhard,
      heute geht es mit Teil 2 weiter, in dem es um Wilsons abenteuerlichen Weg zum Everest geht. Morgen folgt dann Teil 3, welcher sich mit seinen Versuchen am Everest befasst, und am Montag erscheint der vierte Teil, der sich mit den letzten Tagen in Wilsons Leben beschäftigt. Du musst Dich also nicht mehr lange gedulden…

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