Meilenstein 8. Grad

Er war ein vagabundierender Außenseiter, ein schweigsamer Einzelgänger, dem man die ärmlichen Verhältnisse ansah, aus denen er kam. Von Beruf war er Schneider. Aber als solcher gearbeitet hat er wohl nicht sehr viel. Ab 1912 wohnte er bei seiner Halbschwester in Dresden. In den folgenden zehn Jahren, mehr blieben ihm nicht, wurde er zum besten Kletterer der Welt! Die Rede ist von Emanuel Strubich.

Strubich wurde 1887 im heutigen Teplice geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Gesichert ist, dass er seiner Halbschwester nach Dresden folgte, die dorthin geheiratet hatte. Und das er vermutlich um 1912 mit dem Klettern im Elbsandstein begann, denn sein erster Gipfelbucheintrag stammt aus jenem Jahr. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass er mitten im ersten Weltkrieg, als Millionen in den Schützengräben umkamen, seelenruhig klettern gehen konnte. Die Vermutung liegt nahe, dass er der Einberufung entging, weil er sich nicht in Dresden gemeldet hatte.

Emanuel Strubich, Quelle: Sammlung Joachim Schindler

Schon 1915 kletterte er den Strubichweg am Falkenstein, ein Jahr später den Alten Weg an der Raaber Säule, die Südwand am Kanzelturm im Bielatal und die Nordwand am Kreuzturm. Alles Wege im 7 Grad der Sächsischen Schwierigkeitsskala, die erste und damals noch einzige Skala für die Einstufung von Kletterschwierigkeiten der Welt. Spätestens nach diesen Heldentaten war Strubich in der damaligen Szene eine Größe! 

Doch verewigt in den Analen des Alpinismus hat er sich an einem Gipfel namens „Wilder Kopf“ in den Affensteinen der Sächsischen Schweiz. Wer heute unter diesem Gipfel steht, sich seine Westkante anschaut und womöglich doch einige Erfahrung im Vorstieg im Elbsandstein besitzt, der fragt sich, was sich Strubich damals im Mai 1918 bloß gedacht hat? Man schaut auf eine dunkle, ausgesetzte, haltlose Wand, die von weitem ganz und gar unkletterbar aussieht. Wie konnte er wissen, dass dieser Weg für ihn möglich ist? Logischerweise gab es keine Ringe in der Route! Was, wenn sie zu schwierig war und ein Rückzug nötig werden sollte?

Und dann die Ausrüstung: Ein Hanfseil um die Brust gebunden. Ich will mir nicht vorstellen, was mit einem menschlichen Körper passiert, wenn er in ein solches um die Brust geschlungenes Seil fällt. Selbst wenn es nicht reißen sollte, wären schwerste Verletzungen unvermeidlich. Als letzter Schrei in punkto Ausrüstung galt der von Oskar Schuster um 1890 aus den Alpen in Sachsen eingeführte Kletterschuh mit Hanfsohle. Welche Reibungseigenschaften hatte der? Und dann die Sicherung selbst in einer Zeit, da der Karabiner noch nicht erfunden war, es keine superbruchfesten Kevlarschlingen usw. gab. Wo konnte Strubich mit dem damaligen Material in diesem Weg überhaupt eine halbwegs verlässliche Zwischensicherung legen?

Für uns heute vollkommen undenkbar, so zu klettern. Was für Kerle müssen das gewesen sein, die sich so eingebunden in den achten Grad gewagt haben? Im Bild ein Kletterer am Ostervorturm (Schrammsteine) in einem Hangelriss in den 1960er Jahren. Quelle: Wikipedia, Deutsche Fotothek Sächsische Schweiz.

Vielleicht war sich Strubich seiner Sache ja über alle Maßen sicher. Oder hatte der damals 31 jährige mit seinem Leben abgeschlossen? Warum schlug er keinen Ring?

Fest steht, dass mit der Begehung der Westkante am Wilden Kopf, vor fast genau 100 Jahren, ein Meilenstein der besonderen Art gesetzt wurde. Erstmals weltweit wurde eine Route in dieser Schwierigkeit geklettert. Wenn man nun bedenkt, dass noch fast 50 Jahre später der 6. Grad in den Alpen und anderswo als die Grenze des Menschenmöglichen angesehen wurde, kann man ermessen, was da am Wilden Kopf geschehen ist.

Die Kletterszene im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts im Elbsandstein mit ihren Protagonisten war ihrer Zeit um Jahrzehnte voraus. Trotzdem oder womöglich gerade deswegen wurde sie anderswo praktisch nicht wahrgenommen. Heute ist das Gott sei Dank nicht mehr ganz so, was die neue Ausgabe des Magazins „berg und steigen“ eindrucksvoll unter Beweis stellt. Übrigens für mich das relevanteste und informativste was es im deutschsprachigen Raum zum Thema gibt.

Dort wird in einem tollen Artikel mit Bernd Arnold ein anderer wegweisender sächsischer Kletterer gewürdigt. Wie Strubich ein Ausnahmetalent und in den Siebziger und Achtziger Jahren einer der weltweit besten Kletterer. Unbedingt lesen!

Der Wilde Kopf in den Affensteinen der Sächsischen Schweiz mit seiner Westkante.

 

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2 Antworten

  1. Stephan sagt:

    Toller Bericht und Respekt gegenüber all jenen Kletterern, die im Sächsischen neue Routen erschlossen haben und erschließen. Ich bin selbst dort geklettert und möchte sagen, es war bisher meine mental forderndste 7 im Vorstieg.

  2. Matthias sagt:

    Einen Tick später unterwegs aber unvergessen bleibt auch Lothar Brandler, er setzte sich dann mit dem Problem Klettergurt auseinander. Nachhaltig

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