Entscheidungsfallen, Teil 2

Jeder von uns, der sehr viel in seinen geliebten Bergen unterwegs ist, investiert oft eine Menge Zeit mit dem Training, mit seiner Ausrüstung, mit der Planung seiner nächsten Bergtour. Er surft tagelang auf Bergsportseiten im Internet, guckt Dutzende von Red Bull produzierte Kletterfilmchen, studiert stundenlang Führerliteratur, schaut sich Tutorials bei YouTube an oder liest manchmal sogar die einschlägigen Fachzeitschriften.

Aber die Aneignung von Kompetenzen, wie man in schwierigen Situationen, unter Zeitdruck, bei sich rasch verschlechternden Verhältnissen und unter dem gleichzeitigen Eindruck der massiven Erwartungshaltung seiner Seilpartner belastbare Entscheidungen trifft, wird schlicht vernachlässigt. Wie im Teil 1 schon erwähnt, ist ein solches Training in anderen Hochrisikobranchen wie der See- und der Luftfahrt, der petrochemischen Industrie oder auch bei den Sicherheitskräften schon seit Jahrzehnten gang und gäbe.

Diese beiden Bilder erinnern mich an eine Beinahe-Fehlentscheidung. Für alle Zeit lassen sie mich daran denken, wie schmal der Grat sein kann, zwischen „Alles richtig gemacht“ und einer Katastrophe. Auf dem Gipfel des Nirekha Peaks (links ) war die Welt nicht nur in Ordnung. Hier herrschte noch die pure Euphorie und die Sonne schien. Keine zwei Stunden später gab es Grund zu großer Sorge, ob es alle noch unbeschadet bis ins Lager schaffen würden. Und das Wetter war nicht etwa schlecht. Das kann auch ganz anders. Es kam bloß ein bisschen Wind auf, und es hatte zu schneien begonnen.

Dabei hat wohl jeder schon, wenn er nur lange genug in der Gebirgen dieser Welt unterwegs ist, die Erfahrung gemacht, dass er sich beim Aufeinandertreffen von gleich mehreren ungünstigen Umständen überfordert gefühlt hat. Oder man hat sie ignoriert oder sie sich selbst kleingeredet nach dem Motto: So schlimm ist das alles noch gar nicht, es wird schon gut gehen.

Meist ist es nicht das Erkennen einer Risikosituation. Sie ist uns oft bewusst. Unsere Reaktion darauf weist häufig die eigentlichen Schwächen auf. Wir geraten in „Entscheidungsfallen„. Einer der sich schon seit 25 Jahren mit diesem Thema befasst, ist der Amerikaner Ian McCammon. Der Physiker und Maschinenbauingenieur verlor einen Freund in einer Lawine. Unter dem Eindruck dieser persönlichen Tragödie hängte er seinen Job an den Nagel, um sich fortan mit der alpinen Forschung zu befassen. Auf McCammon gehen die sogenannten FACETS zurück. Das sind Faktoren, die unseren Entscheidungsfindungsprozess mal mehr mal weniger beeinflussen. Jeder weiß sofort, wovon die Rede ist:

Lawinen sind nicht gleich Lawinen. Wenn Skitourengeher ein Schneebrett auslösen, und es gibt Opfer, werden anschließend bohrende Fragen gestellt werden. Hätte man die drohende Gefahr erkennen müssen, oder hat man sie womöglich sogar bewusst ignoriert? Eislawinen wie dieses gewaltige Teil auf den beiden Fotos im pakistanischen Karakorum, bedrohen einen immer, wenn man unter solchen Flanken entlang queren muss. Es ist wie Russisches Roulett. Entweder man entscheidet sich, die Flanke zu queren, drückt also ab, in der Hoffnung, dass keine Kugel im Lauf ist, oder man lässt es.

Da ist erstens die Vertrautheit (F=Familiarity). Kennen wir alle. Wir haben es immer so gemacht, und es ist nie etwas passiert. Jetzt wird es also auch gut gehen. 

Ein zweiter Einfluss ist die Akzeptanz (A=Acceptance). Hier ist im weiteren Sinn unsere Eitelkeit gemeint. Wir wollen geschätzt und respektiert werden. Wir möchten andere in der Gruppe beeindrucken, um uns selbst besser zu fühlen. Den Schwanz einzuziehen und zur Umkehr zu blasen, wird das genaue Gegenteil bewirken.

Zum Dritten spielt die Konsistenz eine Rolle (C=Consistency). Wir entscheiden in einer Situation so, wie wir schon einmal entschieden haben.

Viertens finde ich besonders relevant. Vertrauen in den Experten (E=Experte Halo). Man vertraut dem Führenden, welcher die wichtigen Entscheidungen für alle trifft. Doch ob er das überhaupt kann, wird gar nicht erst hinterfragt. Man folgt ihm aus Bequemlichkeit oder weil man es selber auch nicht besser weiß.

Auch fünftens spielt immer eine große Rolle bei (Fehl-) Entscheidungsfindungen: Erste Spuren (T=First Tracks). Punkt fünf beschreibt die Begrenztheit von Chancen. Hier gehört unser eindrucksvolles Beispiel mit den erschöpften Spaniern im Teil 1 hinein. Der erste Achttausenderbezwinger im ganzen Heimatort, der Erstbegeher einer tollen Linie an dieser sagenhaften Wand oder auch nur der erste Skifahrer im unberührten Pulverschneehang. Die günstige Gelegenheit ist endlich da. Wir können etwas sehr erstrebenswertes bekommen. Und nun will man diese vielleicht einmalige Gelegenheit auf keinen Fall verpassen.

Und auch Sechstens ist uns allen wohlbekannt: Soziale Geborgenheit (S=Social Facilitation). Andere haben das schon vor uns gemacht. Oder sie kommen uns fröhlich vom vermeintlich nahen Gipfel entgegen. Oder sie berichten uns beim Obstler von ihren großartigen Abenteuern bei ihrer gestrigen Tour auf den Berg über der Hütte. Also scheint ja alles bestens zu sein.

Auch an diese beiden Situationen erinnere ich mich, als wären sie erst gestern gewesen. Links klettert ein Nepalgast am Gipfelgrat des 6189 m hohen Island Peaks in der Everest-Region. Der Wind hatte Sturmstärke erreicht. Es gab brutalen Spindrift, und wir kamen uns vor, als seien wir in ein Sandstrahlgebläse geraten. In dieser Situation fürchtete ich, die Kontrolle zu verlieren, und deshalb musste ich den Abstieg gegen den Willen der Leute regelrecht „befehlen“.

Auf dem rechten Bild war die Situation komplett anders. Wir gerieten in einen der gefürchteten patagonischen Wetterstürze am Fitz Roy. Hier gab es nichts zu entscheiden. Uns blieb nicht der Hauch einer Alternative. Wir mussten sehen, wie wir lebend und halbwegs heil von diesem Berg runterkommen.

Es gibt natürlich noch viel mehr solcher Einflüsse. In weiteren Listen finden sich Dutzende, die auch sehr gut hierher passen würden. Zum Beispiel beharren wir oft auf einer ersten gewonnenen Überzeugung, obwohl neue Informationen dieser widersprechen. Oder unsere Neigung, Informationen so auszuwählen und zu interpretieren, dass sie die eigenen Erwartungen bestätigen. Oder als letztes, weil es noch so viel mehr davon gibt, die Tendenz von wenig kompetenten Menschen, das eigene Können zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen.

Es ist sehr hilfreich, wenn man diese Einflüsse kennt und akzeptiert, dass sie einen großen und oft unterschätzten Einfluss auf unsere Entscheidungen in den Bergen haben, denn nur mit diesem Wissen, können wir den Entscheidungsfallen auch entgehen.

Um das besser zu bewerkstelligen, müssen wir zu allererst uns und die Gruppe, in der wir integriert sind, beobachten. Was ist los mit uns? Können wir uns überhaupt selbst vernünftig einschätzen? Haben wir Angst? Sind wir unsicher, weil überfordert oder erschöpft? Über welche Ressourcen und Informationen verfügen wir? Spielt uns unsere Eitelkeit wiedermal einen Streich? Brauchen wir die Anerkennung anderer heute besonders, weil uns die Freundin gerade verlassen hat? Und was ist mit unseren Mitstreitern los? Sind sie aufmerksam, diszipliniert, aufmüpfig oder lethargisch? Sind sie den Anforderungen der Tour überhaupt gewachsen?

Noch heute bin ich froh über eine Entscheidung, die damals nur Kopfschütteln hervor rief. Als ich 2005 auf meiner kleinen, privat organisierten und sauerstofffreien Everest-Expedition zum ersten Mal mein Zelt zu den anderen 50!  ins Lager 1 stellen wollte, war ich ganz und gar nicht einverstanden mit der Wahl des Standortes für dieses Lager. Die Zelte stünden seit Edmund Hillary an diesem Platz, sagten mir die Sherpas, welche die Ausrüstung für den MDR-Kameramann schleppten. Ich stellte mein Zelt ein paar hundert Meter oberhalb des traditionellen Lagerplatzes. Es stand dort ganz allein. 

Mein Zelt war das einzige, welches von der verheerenden Eislawine, welche am 4. Mai 2005 um 5.24 Uhr das gesamte Lager 1 niederwalzte, verschont blieb (links). Da Lager 1 am Everest von den meisten lediglich als Depot und für eine oder zwei Akklimatisationsnächte benutzt wird, gab es „nur“ acht Schwerverletzte, die nun durch den Khumbueisbruch ins Basislager getragen werden mussten (rechts).

Einfach gesagt, wir müssen achtsam sein, also ständig uns, die anderen und die äußeren Bedingungen beobachten und bewerten. Wenn ich mir darüber im Klaren bin und auch die Entscheidungsfallen in meine Überlegungen mit einbezogen habe, versetzt mich das womöglich tatsächlich in die Lage, nun die zumindest besseren Entscheidungen zu treffen. Aber wie tue ich das richtig, schon ganz und gar unter dem oben schon erwähnten Druck?

Ende Teil 2

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2 Antworten

  1. Christian Pech sagt:

    Hallo Olaf,
    wo nimmst Du nur immer die Anregungen für Deine Artikel her? Auch dieser bzw. diese sind wieder gut und wichtig.
    Was mir dazu einfällt: Es gibt Leute, die merken gar nicht (oder wollen es nicht merken), dass sie gerade an mit einem blauen Auge davongekommen sind. Nach dem Motto: Ich war auf dem Gipfel und bin auch wieder runtergekommen, also alles richtig gemacht. Ich denke ein gesundes Maß an Selbstreflexion gehört eben auch dazu. War ich der Situation gewachsen? Bin ich nur „geschwommen“ oder hatte ich alles im Griff? Wenn man sich bzw. sein Tun immer mal hinterfragt oder auch mit den Seilpartnern über bestimmte Situationen diskutiert, dann kann wird man besser und lernt daraus. Man muss dazu aber auch bereit und offen dafür sein. Einfacher ist es natürlich zu sagen, das habe ich schon immer so gemacht, ist noch nie was passiert usw. Mir dieser Einstellung kann man seinen Schutzengel auch irgendwann mal überstrapazieren.
    Viele Grüße
    Christian

    • Olaf Rieck sagt:

      Hallo Christian,
      selbst in der größten Euphorie nach einem gelungenen Projekt war mir immer klar, wann und wo auf dem Weg zu meinem Ziel der Ehrgeiz die Vernunft niedergerungen hat. Solche Situationen gehen dann regelmäßig mit Angst einher. Und an die erinnere ich mich nicht gern, weil es unangenehm ist, mir selbst meine Unzulänglichkeiten einzugestehen. Anderen wird es vermutlich ebenso gehen.

      Wenn wir „bereit und offen“ sind, über unsere Fehler nachzudenken und sie zuzugeben und zu diskutieren, wie Du schreibst, dann könnte es sein, dass wir länger leben.

      Meine Anregungen nehme ich zum einen aus dem, was um mich herum passiert. Zum zweiten aus inzwischen 33 Jahren Erfahrungen im Hochgebirge und beim Klettern. Oft inspirieren mich auch Artikel in Fachzeitschriften. Gerade arbeite ich an einem neuen Vortrag für Führungskräfte in Firmen zu diesen Themen, und da bleibt die Leserei nicht aus.
      Beste Grüße…

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