Die Crux mit der Schwierigkeit, Teil 1

Sie sah schon ziemlich gut aus die Route. Und der Blick in den Kletterführer bestätigte dies: Gut strukturierte Platten und eine schöne „technische“ Verschneidung sollte der „Sole Che Ride“ auf ihren fünf Seillängen einen abwechslungsreichen Charakter verleihen. Abwechslung mag ich ja ganz besonders. Doch vor allem die im Führer angegebene Schwierigkeit dieses Weges ließ mich die Sache rasch entscheiden. 6a in der französischen, also 6+ nach der internationalen Skala in der schwersten Seillänge. Kann ich klettern. Immer. Auch nachts um Drei mit 40 Fieber.

Das Val die Mello ist sicher das spektakulärste Tal der Alpen zumindest was die Größe und vor allem was den Eindruck der hier stehenden Felsen anbelangt. Es kann sich problemlos mit dem Yosemite vergleichen. Aber es ist ganz und gar nichts für Anfänger.

Schließlich bin ich auch schon 7+ und noch schwerer On Sight geklettert. Mit On Sight wird der reinste und sportlichste aller Begehungsstile bezeichnet. Man klettert die Route im ersten Versuch, ohne sie vorher anders begutachtet zu haben als von unten, ohne sie vorher im Nachstieg geklettert zu sein oder anderen dabei zugesehen zu haben. Und auch ohne Sturz und ohne zu rasten und auch ohne das schon irgendwelche Sicherungen gelegt oder eingehangen sind.

Wenn mich jemand fragt, wie gut bzw. schwer ich eigentlich klettern kann, dann gebe ich nicht meine schwerste Route an, die ich mich irgendwann einmal nach ewigem Probieren mit Mühe und Not hochgequält habe, sondern ich antworte mit dem, was ich momentan also in den letzten Monaten so On Sight klettern konnte. Deshalb wundern sich manche, wie ein so miserabler Kletterer wie ich auf die Idee gekommen ist, vom Klettern (und Bergsteigen) leben zu wollen.

Das ist er, der Prezipizio degli Asteroidi. Einer der Superfelsen im Val di Mello. Eingekreist ist die Schlüsselseillänge unserer Route, die nur eine 6a abverlangt.

Doch zurück zum Thema. Ich stieg also guter Dinge ein. Auch weil die Route mit Bohrhaken saniert worden ist, wie zu lesen war, wobei „die ursprünglichen Hakenabstände eingehalten wurden“. Was immer das heißen sollte.

Und gleich die erste Seillänge brachte mir die ernüchternde Erkenntnis, dass ich womöglich eine fatale Fehlentscheidung getroffen hatte. Diese Seillänge war für ihren Schwierigkeitsgrad erstaunlich anspruchsvoll und nur ein einziger Bohrhaken auf 45 m war für meine Nervenberuhigung eindeutig zu wenig. Zusätzliche Sicherungsmöglichkeiten Fehlanzeige.

Die zweite Seillänge 50 m lang. Zwei Bohrhaken. Deutlich höhere Schwierigkeiten und nur wenige und dazu noch windige Möglichkeiten, um mobile Sicherungsausrüstung zu platzieren. Was hatte ich nur getan?

Janina in der dritten Seillänge (5b) 600 m über dem Talboden. Der einzige Bohrhaken in dieser Seillänge ist hier der Star auf dem Foto.

Die dritte Seillänge zwei Grade unter 6a war dann endgültig dazu geeignet, an mir und meinen Fähigkeiten zu (ver)zweifeln und denjenigen zu verfluchen, der diese Schwierigkeit vergeben hat. DAS soll eine 5b (5+) sein? Sind die komplett verrückt geworden? Nie im Leben. Will mich der Kletterführerautor umbringen oder der Erstbegeher dieser Route? Und dazu gibt es nur einen Bohrhaken und einen Schlaghaken. Und abermals ist es fast unmöglich, zuverlässig mobil abzusichern. Meine ganzen Keile und Friends baumelten nutzlos an meinem Gurt herum und wurden gefühlt immer schwerer.

Mir schwante nichts Gutes für die Schlüsselseillänge. Denn sie war diese im Kletterführer extra erwähnte „schöne, technische“ Verschneidung. Doch inzwischen sah ich sie aus der Nähe. An ihrem Ende verlief sie gleich über mehrere Meter waagerecht. Sofort tauchten vor meinem inneren Auge gruselige Vorstellungen von bösartigen Pendelstürzen auf und pulverisierten auch noch das letzte bisschen Selbstvertrauen.

Das letzte Viertel dieser „Schlüsselseillänge“ war zwar eine Verschneidung. Aber eine, die man ganz und gar nicht auch so klettern konnte. Und der Riss dort unter dem Dach wurde auf den letzten Metern so eng, dass höchstens noch ein dreijähriges Mädchen seine Finger hineinbekommen hätte. Da steckte dann aber Gott sei Dank ein Bohrhaken. (Foto: Janina Graeber)

Lange Rede kurzer Sinn. Diese Schlüssel-Seillänge war tatsächlich sehr aufregend und zwar nicht nur für mich sondern auch für meine tapfere Nachsteigerin. Allerdings war sie deutlich besser abgesichert. Zum Glück, sonst wäre ich vermutlich schon vor Angst gestorben. Aber ich lebe noch, bin nicht runtergefallen und auch der Stil dieser Begehung war ganz in meinem Sinne. ABER was habe ich mich gefürchtet und vor allem an meinen Fähigkeiten gezweifelt. Kann ich jetzt nicht mal mehr 6+ klettern?

Doch, kann ich! Denn dieses eben beschriebene Erlebnis fand im Val di Mello statt. Das Mekka für Schwerkletterer und Freunde des nervenzerreißenden Thrills. Die Bewertungen der Schwierigkeitsgrade sind hier zum großen Teil wirklich dazu geeignet, seinen Klettergurt für immer in die Ecke zu schmeißen und Kegeln zu gehen oder Angeln.

Aber glücklicherweise bin ich nur wenige Tage später in Südfrankreich ganz entspannt bohrhakengespickte Sechs-b-plusse (7+) geklettert, ohne das mein Puls irgendeine Regung gezeigt hätte. 

Jeder Kletterer kennt das. Schwierigkeitseinstufungen sind ja sowas von subjektiv.

Ende Teil 1

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