Die eiserne Lady, Teil 1
Vorurteile sind ja so eine Sache. Man mag sie eigentlich nicht. Schon das Wort „Urteil“ klingt so endgültig. Und doch sind sie allgegenwärtig. Ich kenne jemanden nicht, habe aber schon dies und jenes über sie/ihn gehört. Und zack habe ich ein Vorurteil. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Wir alle haben ständig irgendwelche Vorurteile. Wir sollten sie aber, vor allem wenn es sich um Menschen handelt, auf keinen Fall wirklich ernst nehmen. Denn Vorurteile erweisen sich oft als falsch. Jedenfalls in meiner Lebenswirklichkeit. Wir Menschen sehen andere Menschen auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Weil wir unterschiedliche Blickwinkel haben, verschieden sozialisiert wurden, gerade schlecht oder besonders gut gelaunt sind oder frisch verliebt oder traurig oder gestresst oder, oder, oder…
Wir haben also zwangsläufig Vorurteile, sollten sie aber locker flockig über den Haufen werfen und uns nicht von ihnen beeinflussen lassen, wenn wir uns aus eigenem Erleben ein tragfähiges Urteil bilden können.
Doch als ich SIE das erste Mal traf, schienen sich alle meine Vorurteile zu bestätigen! Schroff sei sie bis zur Unhöflichkeit, unnahbar, spröde, fast schon abweisend und wahnsinnig altmodisch. Nichtsdestotrotz war sie eine Berühmtheit, sogar eine lebende Legende, um die sich viele Gerüchte, Geschichten und Mythen rankten. Ich war sehr nervös, als ich sie das erste mal traf. Warum eigentlich?

Der 8201 m hohe Cho Oyu mit seiner nahezu 3000 m hohen Südostwand. Bestiegen haben wir ihn über die Nordwand, also genau auf der anderen Seite, welche in Tibet liegt.
Wir waren von unserer erfolgreichen Expedition vom Cho Oyu zurückgekehrt und gerade im Hotel in Kathmandu eingetroffen. Ich freute mich wahnsinnig auf die sogleich bevorstehende Dusche. Doch ich hatte kaum meinen Rucksack im Zimmer abgestellt, klingelte das Telefon.
Sie war dran. Sie bat mich, in die Hotellobby zu kommen, sie warte dort auf mich, um mich zur Expedition zum Cho Oyu zu befragen. Oh mein Gott! Jetzt sofort? Ich sah aus wie ein Strauchdieb, war todmüde, starrte vor Dreck und roch wie ein nasser Fuchs. Ich konnte unmöglich so vor sie hintreten und sagte ihr das auch. Sie meinte, dass das jetzt unwichtig wäre. Sie hätte nicht den ganzen Tag Zeit, und ich sollte endlich kommen und nicht soviel reden.
Ich fühlte mich, wie ein Schuljunge.
Da saß sie. Alles stimmte, was ich über Sie gehört hatte. Eine Lady vom alten Schlag, komplett aus der Zeit gefallen. Sehr unzeitgemäß, aber tadellos gekleidet und frisiert, mit Manieren, wie mein Vater gesagt hätte. Wäre ich ihr zum ersten Mal auf der Straße begegnet, ich würde sie für eine extrem konservative britische Adlige gehalten haben. So jedenfalls habe ich mir solche Damen immer vorgestellt. Sie erinnerte mich sogar ein bisschen an ihre Namensvetterin, die britische Königin, nur deutlich hagerer war sie, und sie färbte ihr Haar.
Meine Vorurteile schienen sich tatsächlich zu bestätigen. Nachdem ich einen Fragebogen ausgefüllt hatte, begann eine Art Verhör. Sie hatte präzise Fragen zu diversen Aspekten unserer Expediton und erwartete ebensolche Antworten. Herumeiern ging nicht. Das löste bei ihr eine Mischung aus Herablassung und Spott aus. Ich merkte sehr schnell, dass sie mir gerade ziemlich unbarmherzig auf den Zahn fühlte. Sie wollte herausfinden, ob ich als Bergsteiger, aber auch als Mensch überhaupt ernst zu nehmen sei. Ob ich es wert bin, dass sie auch nur eine Minute mehr Zeit als unbedingt nötig an mich verschwendet.

Frau Hawley im Jahr 2008 bei der Befragung zu unserer erfolgreichen Erstbesteigung des Chukhung Tse im Imjatal. 85 Jahre ist sie auf diesem Foto alt.
Als sie mit mir fertig war, fühlte ich mich, als hätte ich in einer Prüfung versagt. Doch der Prüfer hatte Gnade vor Recht walten lassen. Ich war geradeso nicht durchgefallen, weil er keine Lust hatte, mich noch einmal zu sehen. So also fühlte ich mich nach meinem ersten Zusammentreffen mit der eisernen Lady des Himalaya-Bergsteigens, Elizabeth Hawley.
Nun hatte ich keine Vorurteile mehr. Nun hatte ich ein Urteil. Diese Frau war ein Drachen, soviel stand für mich fest. Und ich war es NICHT wert, dass sie auch nur eine Minute mehr Zeit als nötig mit mir verbringt.
Noch im selben Jahr, es war 1999, das erste Jahr nachdem ich meinen Uni-Job an den Nagel gehängt hatte, begegnete ich Miss Hawley schon das zweite Mal. Im Herbst brachen wir zum 6735 m hohen Cho Polu auf. Wir wollten eine neue Route durch die noch unberührte Westwand des Berges eröffnen. Zwei Gründe machten diesen Berg so interessant für uns: Erstens sein beeindruckendes Aussehen und zweitens die Tatsache, dass er laut der Recherche des polnischen Himalayaexperten Jan Kielkowski erst drei Mal über seinen Nordgrat bestiegen worden ist. Die Westwand des Cho Polu war aber für eine Erstbegehung noch zu haben.
Aufhorchen ließ uns allerdings die Tatsache, dass dieser Berg bei der nepalesischen Mountaineering Association als noch unbestiegen aufgeführt wurde. Zuerst gaben wir nicht so viel darauf, weil wir dem sehr akribischen Polen und den Angaben in seiner Monographie über das Mount-Everest-Massiv mehr vertrauten als den verschlafenen nepalesischen Beamten.
Als wir nach unserer Anreise im Hotel in Kathmandu eintrafen, dauerte es wieder nur Minuten bis das Telefon klingelte. Frau Hawley forderte abermals ihr vermeintliches Recht ein, uns akribisch über unser Vorhaben auszufragen. Doch dieses Mal machte sie einen ganz anderen Eindruck auf mich. Sie war regelrecht nett. Sie interessierte sie sich diesmal tatsächlich für uns und freute sich über unser Vorhaben. Und als wir erfuhren, warum dem so war, sorgte das bei uns für helle Aufregung. Sie teilte uns mit, dass die Angaben in der Monographie des Polen nicht mit ihren Informationen übereinstimmten. Auch sie hielt den Cho Polu für unbestiegen. Wir waren nun nicht mehr nur eine Expedition von ganz vielen, die auf einen oft bestiegenen 8000er wollten, sondern planten die Erstbesteigung eines Himalayariesen! Das interessierte Miss Hawley nicht nur, das imponierte ihr sogar.
Sie lud uns in ihre Wohnung im neuseeländischen Konsulat ein, wo sie in jahrzehntelanger Arbeit ein bemerkenswertes Archiv aufgebaut hat. Wir recherchierten gemeinsam, lasen in Fachzeitschriften, schickten Faxe in die ganze Welt und ließen uns Informationen zurücksenden von amerikanischen, spanischen und japanischen Mountaineering Organisationen.
Wir erfuhren von ihr, dass der überall als Erstbesteiger aufgeführte Neuseeländer Norman Hardie nie den Gipfel des Cho Polu erreicht hat. Hawley konnte sich dessen so sicher sein, weil er es ihr selbst berichtet hat. Weiter fanden wir heraus, dass eine Japanische Expedition 1964 zwar eine erfolgreiche Besteigung für sich reklamierte, ihr Gipfelfoto aber zweifelsfrei den Cho Polu in einiger Entfernung zeigt und dass zwei weitere japanische Expeditionen bei Versuchen am Cho Polu scheiterten. Soviel steht fest. Nicht sicher ist, ob ein sehr bekannter und starker spanischer Bergsteiger, Nils Bohigas (1958-2016), im Alleingang, ohne Erlaubnis und ohne diese Besteigung bewiesen zu haben, den höchsten Punkt des Cho Polu erreicht hat. Zumindest in seinem Wikipedia-Eintrag wird er als Besteiger des Cho Polu genannt.

Ihr Markenzeichen war dieser VW Käfer Baujahr 1965. Bis in ihre Neunziger rollte Miss Hawley mit diesem Fahrzeug, kutschiert von einem Chauffeur, über die schlaglochübersäten Straßen von Nepals Hauptstadt, um die Expeditionen sowohl vor ihrer Abreise zum Berg als auch nach ihrer Rückkehr einer Art Verhör zu unterziehen.
Ich war maßlos beeindruckt, mit welcher Hartnäckigkeit Miss Hawley die Japaner so lange piesackte, bis sie die Informationen hatte, die sie wollte. Ihr Ehrgeiz diesbezüglich war bemerkenswert. Doch wer war diese Elizabeth Hawley überhaupt? Warum hatte sie eine solche Obsession für Berge und ihre Besteiger entwickelt? Wie schaffte sie es, dass eisenharte Kerle großen Respekt, wenn nicht gar Angst vor ihr und ihrem messerscharfen Verstand hatten? Wieso wurde sie zur letzten Instanz, wenn es darum ging, ob jemand einen Gipfel erreicht hat oder eben nicht? Jedenfalls war sie zweifellos die Ikone des Himalaya-Bergsteigens.
Den Versuch von Antworten auf diese Fragen gibt es im Teil 2
P.S. Falls jemand neugierig auf unsere Cho Polu-Expedition ist: Schon auf dem Anmarsch zum Berg machten uns schwere Schneefälle einen Strich durch die Rechnung. In die Westwand konnten wir nicht einsteigen. Die Lawinengefahr war zu hoch. Wir hatten schon sehr große Schwierigkeiten, überhaupt das Basislager zu erreichen, weil unsere Yaks bei dem hohem Schnee die Arbeit verweigerten. Wir mussten in schweißtreibender Schufterei einen kilometerlangen Graben für die Tiere schaufeln, um an den Bergfuß zu kommen.
Unser Hochlager errichteten wir auf dem Col Hardie und überschritten ihn von dort aus, um an die Nordwand zu kommen. Und diese kletterten wir dann erfolgreich. Übrigens ist es mir vollkommen egal, ob wir die Erstbesteiger des Cho Polu sind oder nicht. Es war eine großartige Tour, auf welcher ich wahnsinnig viel lernen durfte.
Den Expeditionsbericht findet Ihr HIER
Links der Cho Polu mit seiner Westwand und dem Col Hardie (Pfeil) auf dem unser einziges Hochlager stand. Von dort aus sind wir auf der anderen Seite abgestiegen, um zur hier nicht sichtbaren Nordwand zu gelangen. Damit sind wir die ersten, die das Col Hardie überschritten haben. Rechts stehe ich stolz wie ein Spanier auf dem höchsten Punkt des Cho Polu.
Ja, Frau Hawley war eine beeindruckende Persönlichkeit! Ich werde nie unsere Begegnungen mit ihr 2008 vergessen und erinnere mich daran, als ob es gestern war. „It´s pioneering moutaineering. It`s good.“ hat sie bei unserem Interview gesagt. Das Treffen mit ihr, war ein Highlight für mich.
Hallo Christian,
auch mir ist die entspannte und freundliche Atmosphäre im Garten des Nirvana Garden Hotels in Kathmandu noch sehr gegenwärtig. Spätestens mit dieser dritten Erstbesteigung, so mein Gefühl, hatten wir uns die Aufmerksamkeit und die Achtung der Grande Dame des Himalaya-Bergsteigens erkämpft. Allerdings waren dazu nicht weniger als sechs große Expeditionen nötig und gleich drei Erstbesteigungen…