Eine Frau namens Wanda

Als ich zum ersten Mal über die polnische Alpinistin Wanda Rutkiewicz las, wollte ich meine Tochter, falls ich je eine haben würde, Wanda nennen. Sie war sehr klug, attraktiv, ehrgeizig und außerordentlich erfolgreich. Schon 1992 hatte Rutkiewicz 8 der 14 Achttausender auf ihrem Konto, fast ein ganzes Jahrzehnt bevor Edurne Pasaban ihren ersten Achttausender bezwang. Die Spanierin Pasaban war die erste Frau, die alle 14 über 8000 m hohen Berge besteigen konnte. Rutkiewicz war ihrer Zeit also meilenweit voraus.

Sie kam am 4. Februar 1943 im litauischen Plunge als Wanda Blaszkiewicz zur Welt und stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Aufgewachsen ist sie in Warschau. Schon im Alter von 16 Jahren schrieb sich die mathematisch hochbegabte Wanda an der Technischen Universität Wrocław ein, um dort Elektronik und Maschinenbau zu studieren.

Während ihrer Uni-Zeit kam die spätere Diplom-Ingenieurin erstmals mit dem Klettern in Kontakt. Daneben war sie eine talentierte Skifahrerin, Schwimmerin, Turnerin und vor allem Volleyballerin. 1961 entdeckte sie beim Training für die Olympiade in Tokio mit dem polnischen Volleyball Frauenteam das Bergsteigen für sich.

Wanda Rutkiewicz im Jahr 1968. (Foto: Wikipedia)

Über dieses Ereignis äußerte sie sich später: Bergsteigen galt als Männersport, aber ich war auf Anhieb fasziniert und erlebte dieses Ereignis als innerliche Explosion. Die Berge waren für mich Orte des Friedens und der Freiheit, in den Bergen fühlte ich mich zu Hause, bald bedeuteten sie alles für mich“.

Dann ging es bei Wanda sehr schnell. Eine solch rasante Entwicklung war nur möglich, weil Begeisterung und Leidenschaft auf eine große Begabung traf. Es folgte eine alpinistische Großtat nach der anderen. 1968 durchstieg Wanda mit Halina Krüger-Syrokomska als erste Frauenseilschaft die Riesenwand des Trollryggen-Ostpfeilers in Norwegen. 1970 bezwang sie ihren ersten Siebentausender im Pamir. Nur drei Jahre später führte Rutkiewicz im Winter eine polnische Frauenseilschaft erfolgreich durch die Eiger-Nordwand, was bis dahin noch keiner Alpinistin gelungen war.

1975 dann ein Paukenschlag! Da sie nicht mit auf die polnische Lhotse-Expedition mitgenommen wurde, beschloss sie, selbst eine Expedition zu organisieren. Sie reiste nach Pakistan zu den Gasherbrums. Ihr gelang in einem Frauenteam die Erstbesteigung des 7952 Meter hohen Gasherbrum III, der bis dahin höchste noch unbestiegene Gipfel der Erde.

1978 folgte die erste Winterbegehung der Matterhorn-Nordwand abermals durch ein Frauenteam. Noch im gleichen Jahr stand sie, quasi als erste Krönung ihrer steilen alpinistischen Karriere, als dritte Frau überhaupt auf dem Gipfel des Mount Everest.

Nach zwei vergeblichen Anläufen 1982 und 1984 glückte der Polin 1986 schließlich als weltweit erste Frau die Besteigung des K2 (8611m). Mit ihren Erfolgen am Shishapangma (1987), Gasherbrum II und Hidden Peak (1989), Cho Oyu (1991) sowie der Annapurna, die sie im gleichen Jahr im Alleingang meisterte, war Rutkiewicz auf dem besten Weg dazu, die erste Frau auf allen 14 Achttausendern der Erde zu werden. In den achtziger und frühen Neunziger Jahren war sie unangefochten die beste und erfolgreichste Alpinistin weltweit.

Links: Wanda Rutkiewicz´ Stern auf dem Walk of Fame in Władysławowo. Rechts: Gedenkstein am Eingang der Sekundar Schule in Wrocław. (Fotos: Wikipedia)

Doch um zu verstehen, mit wem man es tatsächlich zu tun hat, muss man sich viel intensiver mit ihrer Biographie außerhalb der Berge beschäftigen. Gleich eine ganze Reihe an tragischen Ereignissen prägten ihr Leben. Als sie fünf Jahre alt war, verlor sie auf tragische Weise ihren geliebten älteren Bruder.

Der siebenjährige Jurek spielte mit zwei Freunden. Irgendwann warfen die Jungen eine nicht explodierte Granate, die sie in der Nähe gefunden hatten, in das Lagerfeuer. Die Explosion war so stark, dass die Überreste ihrer Körper von den umliegenden Bäumen aufgesammelt werden mussten.

Am 6. Dezember 1972, Wanda war 29, fiel ihr Vater einem brutalen Raubmord zum Opfer. In seinem eigenen Haus wurde ihm mit 11 Schlägen der Schädel mit einer Axt zertrümmert.

Doch ein anderer Schicksalsschlag, hat sie mehr als alles andere getroffen.

Wanda Rutkiewicz war zwei Mal verheiratet. Und beide Male kamen die Männer nicht mit Wandas Bergleidenschaft zurecht. Wandas erste Ehe mit Wojtek Rutkiewicz, dem Sohn des damaligen polnischen Vizeministers für Gesundheit, scheiterte 1973 nach drei Jahren am Unverständnis des jungen Ehemannes für Wandas fanatische Bergbegeisterung. Sie war das ganze Gegenteil dessen, was man sich im katholischen Polen der Siebziger Jahre unter einer Ehefrau vorstellte.

Ich habe das Gefühl, dass sie nicht vergessen wurde. Ein Riesenwandgemälde in Wrocław. Es wurde am 8. Dezember 2018 enthüllt und zeigt Rutkiewicz im Jahr 1969 in den Pyrenäen. (Foto: Wikipedia)

Ihre zweite Ehe entstand aus einer jahrelangen Freundschaft. Sie heiratete Helmut Scharfetter, einen Arzt aus Innsbruck. Doch diese Ehe wurde überstürzt geschlossen. In Polen war das Kriegrecht ausgerufen worden und er wollte, dass sie im Westen bleiben konnte. Und er hatte zwei Söhne. Es dauerte nur kurz, bis Scharfstetter frustriert feststellte, dass Wanda weder an ihm noch an seinen Söhnen sondern nur an ihren Expeditionen interessiert war. Sie lies einfach nichts anderes gelten.

Mit welch ungeheurer Vehemenz und Sturheit sie ihre Ziele verfolgte, zeigen gleich eine ganze Reihe von Beispielen. Eins ist besonders bezeichnend. Am Elbrus wurde sie vom einem Skifahrer über den Haufen gefahren. Dabei brach sie sich ein Bein, ungünstigerweise vor dem Aufbruch zu ihrer ersten Expedition zum K2 im Jahr 1982. Aber anstatt sich den Umständen zu beugen, humpelte sie auf Kücken 150 Kilometer über Berge und Gletscher bis zum Basislager des K2.

Der K2 ist mit 8611 m der zweithöchste Gipfel auf unserem Globus. Aber er gilt als der schwierigste aller 8000er und als sehr gefährlich. Im Verhältnis zu den gelungenen Besteigungen ist die Anzahl der Todesfälle besonders hoch.

Endlich jedoch trat der Expeditionsbergsteiger Kurt Lyncke in ihr Leben. Scheinbar hatte sie jetzt den Mann gefunden, der sie verstand und ihre Leidenschaft mit ihr teilte. Sie verlobten sich und gingen gemeinsam auf Expeditionen. 1990 war ihr Ziel der 8051 Meter hohe Broad Peak in Pakistan. Es war Wandas Idee, gemeinsam dort zu klettern.

Es geschah am  24. Juli 1990. Nur wenige Meter von Wanda entfernt quasi vor ihren Augen stürzte er 400 m tief in den Tod. Diesen tragischen Verlust hat sie nie überwunden. Sie schrieb: „Ich bewunderte ihn für alles, konnte bei ihm aufblühen. Er wirkte stimulierend auf mich. Als er verunglückte, hasste ich zum ersten Mal in meinem Leben die Berge.“ 

Wenn man recherchiert, wie es mit Wanda nach dieser Tragödie weiterging, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in dieser ungeheuer starken Frau etwas zerbrochen war. Noch im gleichen Jahr verkündet die Polin, dass sie alle ihr zu diesem Zeitpunkt noch fehlenden acht 8000er in etwas mehr als einem Jahr besteigen wolle. Zu diesem Zeitpunkt ein kaum zu realisierendes Vorhaben.

Der 8051 Meter hohe Broad Peak vom Concordia Platz aus fotografiert.

Sie nannte es „Karawane der Träume“. Weil, wie sie selbst sagte, „ich etwas versuche, dass nur im Traum möglich zu sein scheint. Ich werde einfach losziehen von Berg zu Berg, wie es die Karawanen schon immer getan haben.“ Sie wollte der weibliche Messner sein. Doch warum so schnell? Niemand war ihr auf den Fersen. Sie hätte sich alle Zeit der Welt lassen können. Und bei ihren Fähigkeiten hätte sie gute Chancen gehabt, dieses große Ziel tatsächlich zu realisieren!!

Zuerst ging alles gut. Sie bestieg 1991 nacheinander im Alleingang den 8201 m hohen Cho Oyu und anschließend ebenfalls allein die 8091 m hohe Annapurna. Im Mai 1992 reiste sie zum dritthöchsten Berg der Erde, dem 8586 Meter hohen Kangchendzönga. Sie war nicht ganz gesund, schlecht vorbereitet, fühlte sich ausgelaugt, weil ihre Erholungsphasen einfach zu kurz waren.

Am entscheidenden Tag war sie zu langsam unterwegs. Oberhalb des Gipfellagers in einer Höhe von 8300, nicht einmal 300 Meter unter dem höchsten Punkt, musste sie sich eingestehen, dass sie es an diesem Tag unmöglich schaffen kann. Und sie traf die verhängnisvolle Entscheidung, zu biwakieren. Natürlich hatte sie weder Verpflegung noch einen Schlafsack oder einen Kocher dabei, geschweige denn ein Zelt. Wenn man vom letzten Lager zum Gipfel aufbricht, nimmt man so etwas einfach nicht mit. Wenn klar wird, dass man es nicht schaffen kann, kehrt man um. Und zwar bevor der Point of no Return erreicht ist.

Der Kanchendzönga ist mit 8586 m der dritthöchste Berg der Erde und technisch auch recht anspruchsvoll. (Foto: Wikipedia)

Aber nicht Wanda Rutkiewicz. Der Mexikaner Carlos Carsolio war mit ihr aufgestiegen. Er war schneller als sie unterwegs und erreichte den Gipfel. Als er zurückkam, war er der letzte, der die Polin lebend sah. Er versuchte, sie zu überzeugen, mit ihm abzusteigen. Doch sie war wie eine Maschine auf den Gipfel programmiert. Jedenfalls wirkte sie nach Carsolios Angaben sehr klar. Sie wollte auf jeden Fall biwakieren und den Gipfelversuch am nächsten Tag fortsetzen. Carsolio konnte sie nicht umstimmen. Gertrude Reinisch, die Wanda Rutkiewicz gut kannte und ein Buch über sie geschrieben hat, sagt dazu: „Wer Wanda gekannt hat, weiß, dass das ein unmögliches Unterfangen war. Carsolio hätte sie schon k.o. schlagen und nach unten schleifen müssen.“

Ein Freibiwak auf 8300 Metern Höhe, geschwächt und ohne jegliche Ausrüstung? Hat sie ihren Tod womöglich ganz bewusst in Kauf genommen? So etwas unter diesen Umständen zu überleben und dann noch am nächsten Tag zum Gipfel und wieder hinunter zum letzten Lager zu gehen, ist eigentlich nicht vorstellbar. Auch nicht für eine Wanda Rutkiewicz.

Niemand weiß, was danach geschah. Hat sie die Nacht überlebt? War sie noch auf ihrem neunten 8000er? Oder hat sie sich gar in einem buddhistischen Kloster versteckt, wie einige behaupten? Zwei Touristen wollen ihr dort begegnet sein. Auch drei tibetische Nonnen gaben an, sie gesehen zu haben. Alles unbewiesene Spekulation. Sie müsste schon wieder für alle sichtbar auftauchen, damit ich glaube, dass sie noch lebt. Sie wäre heute 82 Jahre alt.

2024 hat Eliza Kubarska, eine polnische Dokumentarfilmerin mit einem Faible für extreme Orte und Themen, ein Film-Porträt über Wanda Rutkiewicz veröffentlicht. Sieben Jahre hat sie an diesem Film gearbeitet. Sie konzentriert sich vor allem auf die beiden letzten Jahre der Ausnahmealpinistin. Es geht um ihr Verschwinden am Kanchendzönga, und sie versucht, den Gerüchten auf den Grund zu gehen, nach denen Rutkiewicz nicht an ihrem letzten 8000er umkam, sondern sich in ein tibetisches Kloster zurückgezogen hat.

Es ist jedenfalls ganz erstaunlich, wieviel Literatur es über Wanda Rutkiewicz gibt. Sehr viel mehr übrigens als über ihren Landsmann Jerzy Kukuczka, immerhin der zweite Mensch auf allen 8000ern und ein Mann.

Fest steht, dass ich, so viel ich auch lese, nicht wirklich weiß, was für ein Mensch Wanda nun tatsächlich gewesen ist. Ich denke, um das sagen zu können, müsste man sie gut gekannt haben.

Auf alle Fälle war sie ein sehr widersprüchlicher Mensch, der in seinem grenzenlosen Ehrgeiz und Egoismus vielleicht sogar über Leichen ging, wie einige ihr vorgeworfen haben. Viele wollten nicht mit ihr unterwegs sein, weil sie keine Lust darauf hatten, von ihr als Wasserträger benutzt zu werden. Die Liste ihrer Kritiker ist lang und selbst diejenigen, die sie in Schutz nehmen und sie zudem auch noch gut kannten, verwenden für ihren Charakter Vokabeln wie fanatisch, chaotisch, stur, eigenbrödlerisch, eigensinnig, unberechenbar.

Doch es steht außer Frage, dass sie es in der Macho-Männer-Welt des Bergsteigens in den Siebziger und Achziger Jahren sehr schwer gehabt haben muss, sich Respekt zu verschaffen. Es ist eine Tatsache, dass sie übergangen wurde, dass man ihren enormen Fähigkeiten misstraute, und sie ihr neidete, wenn sie ganz offensichtlich zu Tage traten. Doch habe ich das Gefühl, dass dabei ignoriert wird, dass man sie immer wieder aufbrechen lies. Und das sie auch viel Unterstützung erfahren haben muss.

Viele Steine können ihr von offizieller Seite gar nicht in den Weg gelegt worden sein, denn dann hätte sie niemals in so kurzer Zeit so erfolgreich sein können. Die Volksrepublik Polen war ein kommunistisches Land. Man konnte nicht einfach so in den Westen reisen. Schon gar nicht ohne Devisen. All diese Aspekte kommen in den vielen Artikeln, die vor allem Frauen über Wanda Rutkiewcz geschrieben haben, gar nicht vor!

Eins aber steht fest. Sie war eine überragende Alpinistin, ihrer Zeit weit voraus. Und zwar nicht nur, mit der Anzahl ihrer 8000er -Besteigungen. Sie war eine Leitfigur der Emanzipation von Frauen in einer ehernen Männerdomäne. Nach allem was ich jetzt über Wanda Rutkiewicz weiß, ich würde meine Tochter immer noch nach ihr benennen.

Ein Interview mit Eliza Kubarska zu ihrem Film.

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5 Antworten

  1. Henry Pfeiffer sagt:

    Es gibt viele, für die die Berge zur Obsession wurden. Aber unglaublich beeindruckend, die Geschichte Wandas.

    • Olaf Rieck sagt:

      Ja, das ist wahr! Aber die spannende Frage ist doch, warum das so oft passiert. Man könnte schon noch ein wenig darüber nachdenken…

      • Henry Pfeiffer sagt:

        Für mich wurden die Berge auch, nicht ganz zur Obsession, aber Faszination. Die Berge sind ein Ort der Faszination und auch Demut. Diese innere Sicht hat man, oder auch nicht. Seit meiner Jugend ist es mein Traum, in den Bergen, hoch oben in einer Felswand, dass Leben zu verlassen, wenn es soweit ist. Sitzend, in die Ferne zu schauen, seine glückliche Winzigkeit zu spüren und einfach verschmelzen mit dem Fels. LG Henry

  2. Christian Pech sagt:

    Das ging ja schnell mit der Geschichte über Wanda. 😉
    Beeindruckende und tragische Biographie. Bin schon sehr gespannt auf den Film.

  3. Veronica sagt:

    Eine sehr interessante Geschichte!

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