Der unbekannte Zweite
Es war reiner Zufall , dass ich Ryszard Pawłowski getroffen habe. 2012 wollte ich meinen zweiten Versuch am 8080 Meter hohen Hidden Peak starten. Doch ich hatte Probleme, Partner zu finden. Ich bekam zwar eine ganze Reihe von Anfragen, aber als es dann ernst wurde, blieb nur Christoph Descher übrig. Was sich jedoch als großes Glück entpuppte, denn wir waren ein tolles Team und sind weit gekommen, wenn auch nicht bis auf den Gipfel. Aber das ist eine andere Geschichte.
Weil wir nur zu zweit waren, baten wir unsere pakistanische Partneragentur, nach Möglichkeiten zu schauen, uns das Permit, also die sehr teure Besteigungserlaubnis sowie den ebenfalls kostenintensiven Verbindungsoffizier mit einer anderen Gruppe zu teilen. Ohne ein solches sogenanntes Permitsharing wäre die Reise zum Hidden Peak für uns beide nie und nimmer finanzierbar gewesen. Und es hat geklappt. Beim ersten Briefing bei der pakistanischen Mountaineering Assoziation trafen wir auf unsere Partnergruppe. Es waren polnische Alpinisten angeführt von jenem Ryszard Pawłowski.
Ich hatte diesen Namen noch nie gehört. Doch die Polen erzählten uns sehr rasch und voller Stolz, mit wem sie und nun auch wir da zu unserem Berg unterwegs waren. Er sei einer der berühmtesten und erfolgreichsten Bergsteiger Polens. Um das richtig einordnen zu können, muss man wissen, dass gerade das Höhenbergsteigen in Polen sehr populär ist und die Protagonisten fast schon Volkshelden sind. Polen gehört sicher zu den stärksten und erfolgreichsten Bergsteigernationen überhaupt.

Christoph Descher und ich im Basislager des Hidden Peaks 2012.
Mein Interesse an seinen vielen Erfolgen hielt sich allerdings in Grenzen, auch wenn seine alpine Vita tatsächlich äußerst beeindruckend war. Ich hatte den Kopf voll mit anderen Dingen. Doch eine Unterhaltung im Basislager erregte schlagartig meine volle Aufmerksamkeit. Pawłowski erzählte die wahre Geschichte vom Tod Jerzy Kukuczkas an der Lhotse-Südwand. Er ist der einzige Mensch, der das kann, denn er war dabei.
Józef Jerzy Kukuczka wurde am 24. März 1948 in Kattowitz geboren. Nach der Schule arbeitete Kukuczka als Bergarbeiter. Mit 17 Jahren trat er einem Kletterklub in Kattowitz bei und fiel dort rasch durch seine außergewöhnlichen Leistungen auf. Schon mit 23 wurde er zum Leiter des Referats Ausbildung und Qualifikation berufen. Sehr bald verschrieb er sich dem extremen Höhenbergsteigen und hier waren es vor allem die Achttausender, die ihn magisch anzogen. In nur acht Jahren von 1979 bis 1987 bestieg er alle 14 dieser höchsten Berge der Erde. Reinhold Messner brauchte dafür mehr als doppelt so lange, nämlich 16 Jahre und acht Monate.

Jerzy Kukuczka war nicht nur für seine enorme Härte und Zähigkeit bekannt. Vor allem seine psychische Stärke war legendär. (Quelle: Wikipedia)
Doch das besondere an Jerzy Kukuczkas Leistung war nicht nur die Geschwindigkeit mit der er diese 14 Weltberge bestieg. Kukuczka konnte insgesamt vier Achttausender-Wintererstbesteigungen realisieren, zwei davon 1985 innerhalb von nur drei Wochen (Dhaulagiri und Cho Oyu), 11 der 14 Bergriesen bestieg der Pole über eine neue Route. Drei dieser Erstbegehungen verwirklichte er sogar im Winter. Dabei setzte er alpinistische Meilensteine wie die erste Durchsteigung der Südwand des K2, die Erstbegehung des Everest-Südpfeilers oder die erste Solo-Besteigung des Makalu über dessen Nordwestgrat.
Diese Gesamtleistung ist um ein vielfaches höher anzusetzen als die Messners, vor allem wenn man bedenkt, dass diesem weitaus größere finanzielle Mittel und andere Möglichkeiten für die Umsetzung dieses alpinen Jahrhundert-Projektes zur Verfügung standen als dem polnischen Bergarbeiter aus Kattowitze.
1988, bei den Olympischen Spielen in Calgary, wurde ihm und Reinhold Messner der Olympische Orden in Silber verliehen. Reinhold Messner weigerte sich, die Medaille anzunehmen und begründete dies damit, dass er das Bergsteigen nicht als Wettkampf betrachte. Kukuczka nahm die Medaille an.
Doch nach diesem Erfolg hörte Kukuczka, anders als Messner, nicht mit dem extremen Höhenbergsteigen auf. Ganz im Gegenteil. 1989 kehrte Kukuczka gemeinsam mit Ryszard Pawłowski an den Lhotse zurück. Er wollte das „letzte große Problem“ im Himalaya angehen, die noch undurchstiegene 3500 m hohe Südwand des 8516 Meter hohen Lhotse. Beim Gipfelversuch am 24. Oktober kletterte Jerzy Kukucza in etwa 8300 Meter Höhe im Vorstieg. Er verlor den Halt und stürzte ab. In der offiziellen Verlautbarung des polnischen Bergsteigerverbandes hieß es , dass sein Bergseil riss und er kilometerweit in die Tiefe stürzte. Seine Leiche wurde nie gefunden.
Doch wenn man das liest, kommen zwangsläufig Fragen auf. Wenn Kukucza im Vorstieg kletterte, dann benutzte er zur Sicherung normalerweise zwei leichte Bergseile. Vielleicht auch nur eins, um Gewicht zu sparen. 1989 gab es schon länger moderne Kernmantelseile aus Nylon. Seilrisse mit derartigen Seilen sind äußerst selten. Und wie kam Pawłowski allein den Berg wieder herunter?

Die Lhotse Südwand von einem kleinen Pass oberhalb von Namche Basar aus gesehen. Diese Wand ist dreieinhalb Kilometer hoch. Die Eigernordwand würde zweieinhalb Mal übereinander in die Lhotse Südwand hinein passen.
Doch nun hatte ich ja Gelegenheit, den Seilpartner von Kukucza in der Südwand höchstpersönlich danach zu fragen. Und es war äußerst spannend und aufschlussreich, was ich von dem sehr redseligen Ryszard Pawłowski zu hören bekam, und es bestätigte, was ich schon vermutet hatte. Doch Ryszard Pawłowski hat nichts getan, was auch nur im geringsten verurteilenswert wäre. Er hat sein Leben gerettet, weil das des anderen durch keine Macht der Welt mehr zu retten war.
Auf dem Weg von Chukhung im Imjatal der Everest-Region nach Dingboche kommt der Wanderer etwa auf halbem Weg an einem Chorten mit einer Gedenktafel vorbei. Sie ist den drei polnischen Alpinisten gewidmet, die alle in den achziger Jahren beim Versuch, die Lhotse-Südwand zu durchsteigen, umgekommen sind. Und einer von ihnen ist der Bergarbeiter Jerzy Kukucza aus Kattowitze.
Der kleine Gedenkchorten zwischen Chukhung und Dingboche. Der Platz ist gut gewählt, denn von hier hat der Wanderer einen fulminanten Blick hinüber zur gigantischen, fast 20 Kilometer breiten und bis zu 3500 Meter hohen Südwand des Lhotse und des Nuptse.
Regelmäßig frage ich an dieser Stelle meine Gäste, ob sie wüssten, wer dieser Jerzy Kukuczka eigentlich ist, und so gut wie nie hat schon irgend jemand etwas von ihm gehört. Denn er war „nur“ der zweite Mensch, der auf allen 14 Achttausendern stand. Den ersten kennt jeder.
Doch so viel steht fest: Jerzy Kukuczka ist zweifellos einer der besten, innovativsten und vor allem stärksten Höhenbergsteiger, die es jemals gab. Nur leider hat er selbst zu Lebzeiten nur wenig davon gehabt. Und nach seinem Tod ist er fast gänzlich in Vergessenheit geraten.
Ergänzend dazu gibt es ein lesenswertes Buch über die polnischen Höhenbergsteiger von Bernadette McDonald: Klettern für Freiheit.
Oder auch von Jerzy Kukuczka selbst: Im vierzehnten Himmel. Wettlauf im Himalaya. Das gibt es aber nur noch antiquarisch.
Mir ist noch etwas zum Thema eingefallen: Wanda Rutkiewicz. In ihrer Zeit war sie drauf und dran, alle Achttausender als erste Frau zu besteigen. Leider ist sie 1992 am Kangchendzönga verschollen. Wäre doch auch mal etwas für einen Artikel.
Übrigens läuft bei den diesjährigen Bergsichten in Dresden der Film „THE LAST EXPEDITION – Was geschah mit Wanda Rutkiewicz?“.
Hallo Christian, vielen Dank für Deine beiden Kommentare.
Vermutlich soll ich Dein Kommentar als Anregung und Motivation verstehen, etwas über Wanda Rutkiewicz zu schreiben. Ihre Biographie ist ganz sicher ein spannendes Thema, denn sie war ihrer Zeit weit voraus. Aber sie war auch sehr umstritten. Ich denke mal darüber nach.
Beste Grüße nach Cottbus…
Wusstest Du eigentlich, lieber Christian, dass es über Wanda Rutkiewicz bestimmt zehn Mal mehr Literatur gibt als über jeden anderen der polnischen Spitzenbergsteiger, einschließlich Jerzy Kukuczka? Da hast Du mir ja ein schönes Ei ins Nest gelegt. Aber ich habe mit der Arbeit an einem Beitrag über die polnische Ausnahmealpinistin begonnen, denn ihre Biographie ist hochspannend und an vielen Stellen auch sehr tragisch.