Sieben Uhr 57

Die vergangene Nacht war lang und sehr kalt. Es ist nach drei Wolkentagen seit dem gestrigen Abend wieder klar und dementsprechend zeigte mein Außenthermometer satte 25 Grad Frost.
Bei solchen Temperaturen ist es kaum möglich, irgendetwas sinnvolles außerhalb des Schlafsackes zu bewerkstelligen. Also verkriecht man sich spätestens gegen sechs oder halbsieben Uhr in denselben, denn die Sonne verschwindet gegen 16.30 Uhr hinter den Bergen.

Der Blick aus meinem Zelt im Basislager. Der Nirekha selbst ist nicht sichtbar. Aber dafür dieser Gletscher, den er fast bis zu uns herab sendet.

Doch was tut man hier drin? Lesen? In den Tiefen des Schlafsackes denkbar. Aber man bekommt bald Erstickungsanfälle. Außerdem ist das in der Enge mit dem Seitenumblättern schwierig. Ein elektronisches Lesegerät ist da zweckmäßiger als ein konventionelles Buch. Lange Rede kurzer Sinn, man versucht, zu schlafen, bis es mit der Eiseskälte ein Ende hat.

Doch das dauert! Um genau zu sein 13 Stunden, wenn man 19.00 Uhr in den Schlafsack kriecht. Genau 7.57 Uhr erreichte heute morgen die Sonne mein Zelt. Die Sonne kommt und geht jeden Tag und löst die unterschiedlichsten Gefühle bei den Menschen aus. Doch nirgendwo wird sie so sehnsüchtig erwartet, wie in den hochgelegenen Lagern an den großen Bergen.

In kurzer Zeit steigt die Temperatur im Zelt von heute morgen minus 15 Grad auf über 30 Grad an. In Nu muss sich der Zeltbewohner jetzt mit der fast unerträglichen Hitze auseinandersetzen. Ich halte es in meinem Zelt nur aus, wenn ich meinen geöffneten Schlafsack als Sonnenschutz darüber stülpe.

Mario (vorn) und Kharma Rita arbeiten sich mit der Steigklemme am fixierten Seil über die von mir so genannte Erste Stufe hoch oben am Berg. Um auf die Eiskappe des Nirekha zu gelangen, müssen zwei steile Eisaufschwünge überklettert werden.

Doch nun genug zu den Eigenheiten unseres Basislagerlebens, denn viel wichtiger ist ja, was bei uns so passiert ist. Und das ist eine Menge!

Am vergangenen Sonnabend war Großkampftag am Nirekha. Die Route sollte mit Seilen versichert werden und zwar möglichst bis zum Gipfel. Kharma Rita, Mario und ich sind um 5.30 Uhr losmarschiert. Bis zum Gletscher, dem Punkt also an dem die Steigeisen angelegt werden müssen, ging es sehr zügig voran. Sämtliche Seile und Ausrüstungsgegenstände hatte das Team ja schon die beiden Tage zuvor dorthin getragen.

Hier allerdings stopften wir etwa 400 m Seil in unsere Rucksäcke und stiegen in rekordverdächtigen anderthalb Stunden zum Cho La Col auf. Doch vom Col ab wurde es richtig anstrengend. Noch einmal kamen 300 m Seil dazu und das Gelände wird oberhalb des Cols deutlich anspruchsvoller.

Kharma Rita erreicht trotz schwerer Last gut gelaunt meinem Stand auf halber Höhe der Zweiten Stufe. Von hier aus waren es noch einmal etwa 50 m bis auf die Eismütze des Nirekha.

Doch nun war das Glück mit uns. Eine Gruppe, die offensichtlich vor uns hier gewesen ist und von der wir nichts wussten, hatte ihre Seile hängen lassen. Wir brauchten also lediglich das ein oder andere Seil auszutauschen und die Fixpunkte zu überprüfen, zu verbessern oder wenn nötig zu erneuern. Das ging natürlich schneller als die gesamte Route neu zu versichern.

Im oberen Abschnitt der Route, die etwa ein Drittel des Weges oberhalb vom Col ausmacht und ausschließlich im Eis verläuft, musste ich allerdings 300 m Seil neu anbringen. Hier waren die Fixpunkte unserer Vorgänger ausgetaut und die Seile verschwunden.

Doch auch das ging sehr zügig vonstatten, so dass wir schon kurz vor 13 Uhr auf dem beeindruckenden Eisplateau des Nirekha ankamen. Ohne größere Probleme wanderten wir in etwa einer halben Stunde in Richtung Gipfel. Allerdings kam auf der immer noch gewaltigen Eishaube des Nirekha an der ein oder anderen Stelle das Seil zum Einsatz. Im vergangenen Jahr war das noch nicht nötig.

Man muss sich den eisigen Gipfel des Nirekha als eine Ansammlung von Aufschwüngen, Spalten und Eisabbrüchen vorstellen. Im Bild sehen wir nun den letzten dieser Aufschwünge, der den höchsten Punkt unseres Berges darstellt.

Vieles hat sich hier oben in dem einen Jahr, seit meiner letzten Besteigung verändert. Große Spalten haben sich aufgetan, so dass in den kommenden Jahren eine Besteigung immer schwieriger werden dürfte. Wer sehen will, wie rasend schnell das Eis im Himalaya zusammenschrumpft, der sollte mal, so wie ich, sich das jedes Jahr aus der Nähe anschauen. Was einmal ganze Zeitalter gedauert hat, vollzieht sich heute in nur wenigen Jahren.

Dann standen wir auf dem Gipfel. Marios Glück war vollkommen. Und er hat sich das auch mehr als verdient. Sehr souverän und mir einer beeindruckenden Kondition meisterte er diese Besteigung. Die gründliche Vorbereitung war bei Mario der Schlüssel zum Erfolg. Ich kann lediglich das Umfeld so perfekt wie möglich einrichten. Hochsteigen und keine Fehler machen, dass muss jeder schon allein.

Und irgendwann standen wir oben. Kharma Rita hat dieses Bild von Mario und mir aufgenommen. Und man sieht ganz deutlich, dass schönes Wetter anders aussieht.

Leider hatten wir ein bisschen Pech mit dem Wetter. Zwar war der Gipfel wolkenfrei, doch der Everest und viele andere Berge entzogen sich unseren Blicken. Dass die Sonne den ganzen Tag kaum zu sehen war und ständig unangenehmer Wind wehte, machte die Sache zu einer sehr kalten Angelegenheit.

Nun ist der Weg geebnet und Wolfgang und Maike sind fest entschlossen, einen Versuch zu starten. Morgen um 3.00 Uhr wollen wir gemeinsam mit Kharma Rita und auch Mario starten. Mario ist sehr stark und kann uns sicher helfen, worüber ich mich natürlich enorm freue. Sandra ist durch ihre Erkältung so geschwächt, dass sie schon vor einigen Tagen schweren Herzens ihren Verzicht auf den Gipfel verkündet hat. Aber auf den Cho La Col will sie auch unbedingt noch steigen.

Bei uns bleibt es also spannend und die Daumen bleiben bitte weiter gedrückt…

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8 Antworten

  1. Jens Klawonn sagt:

    Zehn Uhr 40: Lieber Olaf, ganz herzlichen Dank für die überaus interessanten und eisigen Einblicke.
    Ich sitze bei gemütlichen 21 Grad (+) im Stübchen und mag mir lieber nicht vorstellen, statt dessen 13 Stunden mit einem (-) Vorzeichen im Schlafsack zu liegen.
    So bleibt am Ende des Lesens mein absoluter Respekt vor dem Leistungswillen, der körperlichen wie mentalen Kraft und die Hoffnung, dass Ihr genau das spürt und erlebt, weshalb Ihr aufgebrochen seit…

  2. Gunter Müller sagt:

    Hallo Olaf und all ihr lieben,
    es ist immer wieder etwas ganz besonderes euere Erlebnisse verfolgen zu können. Diese sehr schönen Fotos und Texte
    lassen alles noch einmal an unsere Zeit erinnern. Genau vor 1 Jahr am 6.März war es bei uns so weit dieses erleben zu dürfen. Bleibt alle gesund und passt auf euch auf. Liebe Grüße aus der Heimat von Karla und Gunter

  3. Jens K. sagt:

    Hallo Olaf, Kharma Rita und Mario,
    herzlichen Glückwunsch zu Eurem schönen Gipfelerfolg. Das hat ja wunderbar geklappt, Respekt.
    Das Gipfeleisfeld sieht ja wirklich gruselig aus im Vergleich zum Vorjahr. Sieht so aus, als würde die ganze Kappe in einpaar Jahren abgerutscht sein.
    Hallo Maike und Wolfgang,
    Euch viel Kraft und Mut und Glück für den Aufstieg. Strengt Euch an, die Gelegenheit hoch zu kommen, ist so gut wie nie. Es bleiben Eindrücke fürs Leben …
    Und hallo Sandra,
    ich war genau vor einem Jahr in Deiner Situation. Es erfordert immer auch Mut, zu verzichten, wenn man die Situation nun einmal so einschätzt, wie sie ist. Es gibt (fast immer) eine zweite Chance. Aber bis zum Col solltest Du es versuchen, das geht auch in der Mittagssonne und beschert Dir auch schon unvergessliche Erlebnisse und Ausblicke.
    Viel Erfolg und Beste Grüße
    aus der frühlingshaften Heimat
    Jens

    • Sandra Möller sagt:

      Hallo Jens!
      Ich danke dir für die lieben Worte.
      Dank Medikamente hat sich die Erkältung schnell verflüchtigt und ich habe meine Kräfte zurückerhalten.
      Niemand konnte mich dann davon abhalten, auch noch auf den Col aufzusteigen und dank Olaf, wurde dieses Erlebnis zu einem meiner schönsten in meinem bisherigen Leben 🙂 Einfach toll!!!

      LG zurück
      Sandra

      • Jens K. sagt:

        Hi Sandra,
        ich gratuliere Dir herzlich und begrüße Dich im Club der „Cho-La-Col-Begeher“!
        Nun halte die Erinnerungen fest, fotografiere viel und geniese den Abstieg und Kathmandu.
        Beste Grüße (vom zweiten Clubmitglied)
        Jens (;-)

  4. elke sagt:

    Hallo all ihr Lieben , es ist schön so viel gutes und spannendes zu lesen, meinen Respekt, und noch traumhaft schöne Tage euch allen…Lg.Elke

  5. Katja sagt:

    Herzlichen Glückwunsch zum ersten Gipfelerfolg und gedrückte Daumen für Weitere aus Chukhung. ? bei uns macht den ein oder anderen eine starke Erkältung ebenfalls zu schaffen, aber wir sind guter Dinge. Der Cho La Pass lief gut. Der Kala Patthar, das EBC und der Chukhung Ri liegen hinter uns. Über den Nangkartshang denken wir morgen nach. Wir freuen uns darauf Euch in Namche zu sehen. Gute Besserung für Sandra. Noch viele schöne Momente und intensive Eindrücke. Bis in ein paar Tagen. VG von Katja die den freien Tag bei bester Sonne und perfekten Ausblick genießt

  6. Wolfgang Jähne sagt:

    Hallo Olaf, Mario und alle anderen Teilnehmer.Herzlichen Glückwunsch zu euren tollen Erfolg.Verfolge eure Tour mit Spannung und drücke allen die Daumen.

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