Glück im Unglück

Über uns ein Zelt in einer steinschlaggefährdeten Rinne. Ich wußte sofort, dass da etwas nicht stimmte. Meine Gruppe und ich waren am Island Peak in Nepal gerade im Hochlager angekommen. Am nächsten Tag sollte es zum Gipfel gehen. Nachdem wir unsere Zelte aufgestellt hatten, so dass meine Gäste mit dem Kochen beginnen konnten, stieg ich zu dem anderen Zelt hinauf. Es war nur provisorisch aufgebaut. Ich ahnte eigentlich schon, was mich erwarten würde, wenn ich gleich den Reißverschluss öffnete. Und leider wurden meine Befürchtungen wahr.

Im Zelt saß ein Sherpa vollkommen aufgelöst von Trauer und Schmerz. Er bewachte einen Schwerverletzten, der beim Abstieg vom Island Peak oberhalb von der Stelle, an der sich das Zelt befand, abgestürzt sei. Der Sherpa war offensichtlich der Führer des Verunglückten und berichtete von massiven Kopfverletzungen. Man könne das Gehirn sehen, sagte er. Und tatsächlich war der Kopf des Verunglückten voller Blut. Man konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen. Um den Kopf war ein alter, ebenfalls blutverkrusteter Schal geschlungen. Der Sherpa sagte, dass der Mann sterben werde, und er warte darauf, bis es soweit ist. Dann würde er absteigen.

Doch jetzt begann das Glück im Unglück für Heiner, so hieß der verletzte Mann, wie ich später erfuhr. Einer meiner damaligen Gäste war eine angehende Ärztin. Ich holte sie zu mir hinauf. Und sie stellte sehr rasch fest, dass die Verletzungen so schwer, wie von dem Sherpa vermutet, gar nicht sein konnten. Bei eröffneter Schädeldecke gibt es Flüssigkeitsaustritt. Den konnten wir aber nicht feststellen. Auch Puls und Reflexe waren besser als vermutet. Hier gab es noch Hoffnung. Ich trommelte sofort alle verfügbaren Leute zusammen, und wir begannen, Heiner ins Hochlager zu tragen. Doch es war schwieriger als gedacht, den großen und schweren Mann das leichte Klettergelände herunter zu bringen. Als nach Stunden die läppischen 70 Höhenmeter hinter uns lagen, war es dunkel. Weiter konnten wir nicht.

Ich bin dann in der Nacht zum drei Stunden entfernten Chukhung abgestiegen, um von dort aus die Deutsche Botschaft zu verständigen, welche dafür sorgen sollte, dass ein Hubschrauber kommt. Doch die wussten schon Bescheid. Ein zweiter Begleiter von Heiner hatte die Botschaft unmittelbar vor meinem Eintreffen verständigt. Zusammen mit ihm und einer Aluminiumleiter bin ich wieder zum Island Peak und weiter hinauf zum Hochlager gestiegen. Inzwischen graute der Morgen.

Wir fixierten Heiner auf der Leiter und begannen, ihn vom Hochlager hinunter ins Basislager zu tragen. Das Gelände war jetzt deutlich einfacher. Etwa auf halben Wege hörten wir den Hubschrauber anfliegen. Natürlich konnte er nicht landen, denn wir befanden uns ja noch mitten im Abstieg. Er war zu früh gekommen. Ich hatte große Sorge, dass vielleicht das Wetter einen weiteren Hubschrauberflug verhindern könnte. Eine zweite Nacht hier oben, würde der Mann tatsächlich nicht überleben. Doch kaum waren wir unten im Basislager auf ebenem Gelände eingetroffen, kam der Helikopter auch schon wieder zurück. Der Pilot hatte beim ersten Überflug wohl sehr genau eingeschätzt, wie lange wir noch bis ins Basislager brauchen würden.

Meine Gäste halfen damals alle mit, Heiner ins Basislager zu tragen, mussten aber deshalb auf ihren eigenen Gipfelversuch am Island Peak verzichten. Ich erinnere mich, wie stolz ich seinerzeit auf meine Leute war. Aber es hat sich mehr als gelohnt, denn Heiner wurde wieder ganz gesund. Seine Kopfverletzungen waren Gott sei Dank tatsächlich nicht so schwer, wie anfangs vermutet. Für die tiefe Bewusstlosigkeit in der er sich befand, als wir ihn entdecken, war ein Hirnödem verantwortlich. Das alles ist nun schon wieder mehr als zehn Jahre her. Gestern feierte er im Kreis seiner großen Familie seinen 75. Geburtstag. Und ich war auch eingeladen, denn seit dieser Zeit verbindet uns eine sehr herzliche Freundschaft.

Es gibt aber noch mehr zu berichten. Die Homepage unseres Baruntse-Projektes im kommenden Frühjahr ist nun weitgehend fertig gestellt. Es gibt wie immer eine Reihe von Bildern und Details zu Berg und Route. Ausserdem wird es, wie nun schon seit einigen Expeditionen, auch diesmal eine interaktive Landkarte geben, auf welcher man zuerst meine Gäste und mich auf unserer Rundtour durch das Khumbu und auf den Nirekha Peak begleiten kann. Anschließend geht es dann, wenn man will, per Mauszeiger sogar auf den BARUNTSE.

Doch ganz besonders wichtig für uns ist der Erfolg unserer Grußpostkartenaktion. Ich traue mich ja schon gar nicht mehr, ohne eine Grußpostkarte irgendwo hinzufahren. Aber das freut mich natürlich sehr, wenn uns so viele Leute auf diese Weise helfen wollen. Denn auch der Baruntse ist als 7000er ein richtiger Expeditionsberg, der vom nepalesischen Tourismusministerium verwaltet wird. Deshalb gehört er zu den genehmigungspflichtigen Gipfeln, und diese Genehmigung kostet leider wie immer einen Haufen Geld.

Wie man zu der Grußpostkarte kommt, erfahren sie HIER. Ich bedanke mich schon jetzt für Ihre Hilfsbereitschaft, ohne die unsere Expeditionen nicht möglich wären!

 

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Eine Antwort

  1. Weyrauch, Detlef sagt:

    Hallo Olaf, ich erinnere mich noch sehr gut an die dramatische Rettungsaktion von Heinrich im März 2002. Um so mehr freue ich mich, dass er im Kreise seiner Familie und Freunde seinen 75. Geburtstag feiern konnte. Herzlichen Glückwunsch. Auf deine Erfahrungen der nächsten Expedition bin ich sehr gespannt. Ganz habe ich meinen Wunsch der Besteigung eines großen Berges noch nicht aufgegeben. Vielleicht klappt es noch mal mit einer gemeinsamen Tour. Ab Januar beginne ich eine neue Arbeit in Leipzig. Ich wünsche dir ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Start in das neue Expeditionsjahr. Viele Grüße von Detlef

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