Leonidio, eine Liebeserklärung
Als eingefleischter Elbsandsteinliebhaber bin ich gefährdet. Vorurteile drohen! Wenn ein Klettergebiet Sportkletterer magisch anzieht, dann, so mein Vorurteil, werde ich dort bestimmt nicht glücklich. Bestrickmützte Köpfe, nackte Oberkörper, testosterongeschwängerte Luft. Nichts für mich. Und deshalb wäre ich auch nie auf die Idee gekommen, nach Leonidio zu reisen. Schließlich sollte dieser Ort ein Hotspot für Sportkletterer sein. Aber wie es eben so ist, manchmal hält das Leben Überraschungen bereit.
Ein Klettergast wollte unbedingt nach Leonidio. Alle Versuche ihn umzustimmen, fielen auf gänzlich unfruchtbaren Boden. Also fand ich mich damit ab, denn ich brauchte das Geld. Doch schon als wir uns diesem Ort im Auto näherten, war ich von dem enormen Felspotential, welches sich hier auftürmte, zunehmend beeindruckt. So großartig hatte ich mir das ganz und gar nicht vorgestellt. Sportkletterer mögen es eher kurz und knackig. Aber diese Wände hier waren mindestens 200 m hoch. Und ich liebe es, möglichst viel Luft unter dem Hintern zu haben.

Die „Hauswand“ Leonidios mit Namen „Kokkinovrachos“, was nichts anderes als roter Fels bedeutet. Keine halbe Stunde dauert der Aufstieg vom Ort aus zu den Einstiegen.
Das Nächste, was mich sehr positiv überraschte, war der Ort Leonidio selbst. Verwinkelte, schmale Gassen führen vorbei an oft noch sehr ursprünglichen weißgetünchten Steinhäusern. Ihre roten Dächer passen farblich perfekt zu den Felsen. In den Gärten um die Häuser überall Mandarinen-, Apfelsinen- und Zitronenbäume mit massenhaft reifen Früchten. Es gibt viele verschiedene Läden. Gleich mehrere Bergsportausrüster sind darunter.
Offensichtlich sind Apfelsinen, Mandarinen und Zitronen im Dezember reif. Man brauchte nur die Hand auszustrecken.
Alte Männer saßen vor den Cafés und rauchten. Die Leute grüßten uns freundlich, obwohl sie uns gar nicht kannten. Und nachdem ich später die verschiedenen Kneipen, Bars und Cafés in dem gemütlichen Örtchen kennengelernt hatte, wurde mein guter erster Eindruck vom Ort Leonidio noch einmal deutlich verstärkt.
Die Wirtin unserer komfortablen und perfekt ausgestatteten Ferienwohnung war an Liebenswürdigkeit kaum zu übertreffen. Sie brachte uns Mandarinen und Apfelsinen in einer Menge, die wir unmöglich alle aufessen konnten. Mit anderen Worten, ich fühlte mich in Leonidio quasi vom ersten Augenblick an zu Hause.
Doch das mit den langen Routen und der Luft unter dem Hintern konnte ich mir abschminken. Mein Klettergast war Sportkletterer. Mit langen Routen hatte er nichts am Hut. Ihm machte es Spaß, für seine Verhältnisse möglichst schwer zu klettern, und dabei wollte er gut gesichert werden. Wenn er irgendwo nicht hochkam, dann musste ich ran und ihm seine Exen holen. Oder ich musste das Seil einhängen, wenn er sich den Vorstieg nicht traute.
Da wir aber jeden Tag in einem anderen Sektor kletterten, lernte ich viele Kletterspots kennen, kam gut zum Klettern und wurde dafür auch noch bezahlt. Also kein Grund zum Klagen. Und so stellte ich bald fest, dass die Felsqualität hier keine Wünsche offen lässt.
Alles was Kalkstein an Beschaffenheiten aufbieten kann und des Kletterers Herz begehrt, findet sich hier: Raue, verschieden steile Platten mit Tropflöchern, Sinter in allen Ausführungen und Größen, broccoliartige Strukturen, Risse. Häufig gibt es horizontale Risse mit griffigen, gezackten Kanten.

Kletterer mögen Sinter. Sie entstehen durch Ausscheidungen an Austritten mineralisierter Wässer. Es entstehen sogenannte Aggregate in Form von Überzügen oder Rinden. Übrigens sind Tropfsteine den Sintern von der Zusammensetzung sehr ähnlich.
Der oft sehr raue, rotbraune und häufig messerscharfe Kalkstein ist selbst in den angesagten Sektoren und Routen mit wenigen Ausnahmen (noch) kaum bis gar nicht abgespeckt. Die Sohlen der Kletterschuhe finden fast überall soliden Halt. Denn die Routenauswahl in den inzwischen 111 Sektoren ist so umfangreich, dass sich die aus aller Welt eingeflogene Schar der Kletterer gut verteilt. Das gilt insbesondere, wenn man sehr spät oder sehr früh im Jahr angereist ist.
Diese beiden Fotos zeigen den zweifellos beliebtesten Spot Leonidios, den Sektor „Mars“. Hier kann an den eben erwähnten Sintern geklettert werden. Außerdem ist dieser Sektor so überhängend, dass man auch bei Regen trocken bleibt. In den Wintermonaten, welche hier zur Saison zählen, muss man im Durchschnitt mit 8 Regentagen pro Monat rechnen. Deshalb ziehen regensichere Wände magisch an. Allerdings gibt es auch einen Wermutstropfen. Viele Routen sind hier eben doch schon merklich poliert.
Über Leonidio ragt also eine imposante, viele Kilometer breite, um die 200 m hohe Wand empor, welche perfektes Gestein bietet. Man sollte also meinen, dass es hier unzählige, großartige Mehrseillängentouren gibt. Aber weit gefehlt. Und das ist tatsächlich schade. Nur einige wenige Routen ziehen sich durch die gesamte Wandhöhe. Die Masse der Touren befinden sich an der Basis der Wände und sind nur zwischen 20 und 40 m lang. Doch ihre Anzahl scheint unendlich und ständig kommen neue Sektoren und Routen dazu.
Der Sektor Hot Rock befindet sich am linken Rand der Leonidischen Hauptwand. Wir sehen Jonas links in der Route „Kalo“. Rechts klettere ich „Draculine“. (Foto: Friedrich)
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass die Wand über Leonidio zwar der größte, höchste und deshalb eindrucksvollste Kletterspot weit und breit ist. Gleich eine ganze Reihe der angesagtesten Sektoren der gesamten Region finden sich hier. Aber das ist bei weitem nicht alles. Dutzende andere zum Teil hochattraktive Sektoren befinden sich in der näheren und weiteren Umgebung, so dass es keine schlechte Sache ist, einen fahrbaren Untersatz dabei zu haben.
Auf dem linken Foto steigt Laureen in dem sehr schönen Sektor Yellow Eyes die Route „Savra“ vor. Rechts klettert Lukas die wunderschöne Route „Pritanion“ ebenfalls im Sektor Yellow Eyes.
Drei Eigenschaften des Klettergebietes rund um Leonidio sind nach meinem Gefühl in erster Linie dafür verantwortlich, dass sich diese Region zunehmender Popularität erfreut. Das ist zum Ersten die ausnahmslos perfekte Absicherung. Hier muss sich wirklich niemand fürchten. Das Zweite, das meiner Ansicht nach ganz besonders zur Beliebtheit beiträgt, ist die Bewertung der Kletterschwierigkeiten. Kommt der angenehm überraschte Kletterer hier plötzlich eine 7a (franz. Skala) hoch, heißt das allerdings noch lange nicht, dass er jenen Schwierigkeitsgrad nun überall auf der Welt beherrscht.

Dieses Bild zeigt exemplarisch die Situation am Wandfuß. Wird nicht gerade hart geklettert, ist chillen angesagt.
Und drittens gibt es hier eine schier unüberschaubare Menge an Routen in den mittleren Schwierigkeitsgraden. Nicht selten findet der winterflüchtige Gelegenheitskletterer 20 oder 30 Wege zwischen 5c und 7a direkt nebeneinander. Manchmal gibt es noch eine sogenannte „Extension“ als Ausdauerzugabe obendrauf, die aber oft viel schwieriger als der untere Teil ist, weil die Wände nach oben hin oft immer steiler werden.
In Leonidio braucht man schon ein paar mehr Exen bei der Bohrhakendichte. Rechts klettert Jacob im Vorstieg in der Route „Kolasi“ im Sektor Yellow Eyes. Hier braucht man sich um sein Leben eigentlich keine Sorgen zu machen, denn der nächste Bohrhaken ist nie weit weg.
Ein weiterer Grund, sich in Leonidio wohl zu fühlen, ist der gute Kletterführer. Ich benutze den Kletterführer der Panjika Cooperative „Kletterführer Leonidio & Kyparissi Climbing Guidebook“. Dieser Kletterführer lässt bei mir als fleißigem Kletterführernutzer buchstäblich keine Wünsche offen. Und was in diesem Zusammenhang unbedingt erwähnt werden muss: Mit den Einnahmen aus dem Verkauf dieses Kletterführers werden lokale Projekte der Panjika Cooperative sowie die lokale Klettercommunity unterstützt, welche Neuerschließungen und Sanierungen alter Kletterrouten auch weit über die Grenzen Leonidios hinaus durchführt.

Es gibt hier in Leonidio auch viele Höhlen, die sich bei den Sehr-Schwer-Kletterern großer Beliebtheit erfreuen. Zumal es hier regnen kann wie es will. Friedrich kämpft in einer 8a (9+ UIAA) im Sektor Twin Caves.
Mein persönliches Highlight in Leonidio sind, wie könnte es auch anders sein, die Mehrseillängentouren. Die längste Route ist der „Pillar of Fire“ in seiner linken Variation. Fast 250 m in 8 Seillängen sind zu klettern, und in diesem Weg muss man tatsächlich auch mobil absichern. Nur ganze 17 Bohrhaken waren 2022 in der Route zu finden. Etwas ganz Seltenes in Leonidio. Normal ist diese Menge an Bohrhaken in einer Seillänge!!
Die Route „Pillar of Fire“ in der Linken Variation im Sektor Kokkinóvrachos Central ist mit etwa 250 Klettermetern die längste Mehrseillängentour in Leonidio. Und sie ist eine der wenigen, die zu einem großen Teil mobil, also eigenverantwortlich abgesichert werden muss. Dafür hat man diese tolle Route in der Regel für sich allein. Rechts klettere ich in der sehr schlecht abzusichernden 1. Seillänge der Linken Variation. (Foto: Luisa Kurowski)
Die vier anderen langen Routen, die ich inzwischen geklettert bin (Mira, Aramis, Aghios Lemmy, Ramisi Rock) sind ebenfalls Sportkletterrouten. Sie sind, wie ihre unzähligen kurzen Brüder und Schwestern weiter unten, gut abgesichert und ebenfalls recht human bewertet. Eine Ausnahme von der hier genannten Regel ist vielleicht die „Ramisi Rock“.
Im linken Bild klettert Luisa die 3. Seillänge der Route „Mira“ an der Kokkinovrachos im Sektor Right of the Flag. Diese wunderschöne Route ist etwa 200 m lang und hat drei verschieden schwere Ausstiegsvarianten. Sie gehört zu den am häufigsten begangenen Mehrseillängentouren in Leonidio. Im rechten Bild kämpft mein Patensohn Jacob in der herausfordernden 2. Seillänge der Route „Ramisi Rock“. Auch diese Tour ist an der Kokkinovrachos im Sektor Right of the Flag zu finden.
Soeben bin ich von meinem zweiten Aufenthalt aus Leonidio zurückgekehrt. Wieder war es ein tolles Erlebnis und die Zeit verging abermals wie im Flug.
Wir wurden tatsächlich noch herzlicher empfangen als beim ersten Mal vor drei Jahren. Diesmal kochte die Wirtin unserer Ferienwohnung jeden zweiten Tag ein leckeres Abendessen mit mindestens zwei Gängen für uns. Wieder standen kaum essbare Mengen Mandarinen und Apfelsinen bereit. Und was mir das Herz besonders erwärmte: An den Regentagen trauerte unsere Wirtin mit uns, weil wir nicht klettern konnten und wenn die Sonne schien, freute sie sich mit uns.
UND ich konnte gleich drei der großen Mehrseillängen-Klassiker klettern.

Die Querung über dem großen Dach in der 3. Seillänge der Route „Aramis“ ist eine sehr luftige Angelegenheit. (Foto: Lukas Jorg)
Doch wenn ich nach meinem Eindruck zu Leonidio gefragt werde, kommen mir tatsächlich nicht die Dinge als Erstes in den Sinn, die ich kletternd dort erleben durfte. Mir hat die Herzlichkeit und die Großzügigkeit der Griechen am besten gefallen. Von ihrer Entspanntheit und unerschütterlichen Freundlichkeit können wir uns hier eine dicke Scheibe abschneiden.
Und so wie es aussieht, werde ich wiederkommen. Ein paar lange Routen in der Roten Wand rufen noch nach mir…

















