Todesfalle Seil

So reißerisch der Titel klingt, so zutreffend kann er unter bestimmten Umständen sein. Der 27. August 2017 war ein schwarzer Tag in den Alpen. Am 3263 Meter hohen Gabler im Zillertal geriet eine sechsköpfige bayrische Seilschaft durch den Sturz eines Bergsteigers ins Rutschen und stürzte 200 Meter in die Tiefe. Fünf von ihnen starben. Und in Italien stürzte am gleichen Tag eine Seilschaft mit neun Bergsteigern auf einem Gletscher an der 3556 Meter hohen Presanella ab, zwei Menschen kamen um.

Das waren nicht die einzigen Unfälle in den Alpen an diesem denkwürdigen Wochenende. Aber es waren sicher die tragischsten, weil sie vermeidbar gewesen wären. 

Warum ich mich gerade jetzt daran erinnere? Weil wir im Sommer in Pakistan am Hidden- und am Laila Peak ständig vor der Frage standen: Benutzen wir ein Seil auf dem Weg zum Lager 1 bzw. 2 oder nehmen wir keins? Und ich erinnere mich, welche Gründe es für die eine oder andere Entscheidung gab.

Am Seil im tief verschneiten Gasherbrum Eisbruch vor einigen Wochen am Hidden Peak. Hier war es ständig eine Ermessensfrage, ob wir mit oder ohne Seil gehen. Denn in so einem Eisbruch macht ein Seil langsam und das Gehen wird viel mühsamer als ohne. Doch Geschwindigkeit ist hier oberstes Gebot zwischen den absturzbereiten Eistürmen. Aber in eine Spalte fallen, wollten wir eben auch nicht.

Bei der Tragödie am Gabler bewegte sich die Gruppe nach Augenzeugenberichten auf etwa 40 Grad steilem von Blankeis bedecktem Gelände. Wenn ich mir vorstelle, wie die Leute in dieses Terrain reingelaufen sind, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Hatte denn dort niemand Angst? Jedem musste doch klar gewesen sein, dass, wenn auch nur einer mal wegrutscht, alle abstürzen werden! Und wenn doch, warum hat niemand etwas gesagt? Angeblich waren alle in dieser Seilschaft erfahrene Bergsteiger!

Geht man am Seil ohne es in stabile Fixpunkte einzuhängen, dann kann dieses Seil nichts anderes als Kräfte übertragen. Fatale Kräfte. Fällt einer, dann gibt es nur die Reibung zwischen den Körpern der Bergsteiger und der Oberfläche des Hanges auf dem sie unterwegs sind. Und die ist umso geringer je steiler und glatter diese Oberfläche ist. Einen Sturz einer einzigen 80 kg schweren Person auf einem 30 Grad steilen Firnhang zu halten, ist selbst erfahrenen Bergführern nur sehr schwer möglich. Das ist inzwischen bewiesen. Schon 1982 führte der berühmte Sicherheitsmann vom DAV, Pit Schubert, dazu Versuche durch.

2012 ebenfalls im Gasherbrumeisbruch. Damals sah die Sache völlig anders aus. Obwohl die Gefahr, den oder die anderen mitzureißen, ständig gegeben war, konnten wir hier nie auf das Seil verzichten. Zu groß die Möglichkeit, in eine Spalte zu stürzen.

Die Frage ist nun aber, warum tun sich so viele sowohl in geführten als auch privaten Seilschaften so schwer, diese Tatsache anzuerkennen?

Für mich gibt es dafür gleich eine ganze Reihe von Gründen: Ohne Seil fühlt man sich angesichts von lauter Gefahren um einen herum und mit einem mulmigen Gefühl im Magen sehr unsicher, hat oft sogar Angst. In Seilschaft fühlt man sich einfach besser aufgehoben. Ein erfahrener Mann nimmt mich ans Seil und der wird ja schließlich wissen, was er tut. Vor allem weil der ja auch selbst weiterleben möchte. So eine Seilschaft ist ein Symbol für Gemeinschaft und Sicherheit.

Wären Christoph und ich 2012 am Hidden Peak nicht durch ein Seil verbunden gewesen, dann würde er jetzt nicht mehr leben. Aber auf einem verschneiten, ebenen, spaltenreichen Gletscher ist ein Seil sowieso grundsätzlich Pflicht.

Und der zweite Grund ist die Unwissenheit. Wenn alle wüssten, dass dieses Gefühl von Sicherheit genau dann trügerisch wird, wenn plötzlich die Gefahr besteht, dass einer den anderen mitreißt, dann würden nicht so viele Leute widerspruchslos über den Gefahrenpunkt hinausgehen. Dieser Punkt ist jene Stelle, an der die Nutzung des Seiles in einer Seilschaft ohne Fixpunkte mit jedem Schritt gefährlicher wird. Das Firnfeld steilt auf, wird hart, Blankeis taucht auf, das mulmige Gefühl im Magen nimmt zu, das Bedürfnis nach Halt am Seil ebenso. Gottlieb Braun-Elwert hat das in einem sehr informativen Artikel in der „bergundsteigen“ aus dem Jahr 2008 „Übergangsgelände“ genannt. Jeder versierte Hochtourengeher weiß genau, wovon hier die Rede ist.

Seilfrei in der Breithornnordwand. Wer dort am einem Tag hoch- und mit der Bahn wieder runterkommen möchte, der kann nicht die ganze Zeit durchgehend sichern. Der kann aber auch nicht in solchem Gelände in einer Seilschaft gehen ohne für eine Absturzsicherung zu sorgen. Da ist seilfreies Gehen oft die einzige Alternative!

Ein weiterer Grund ist die Sorge des verantwortlich Führenden, dass er, wenn er zum Beispiel empfiehlt, an Fixpunkten zu sichern oder ein Fixseil zu installieren, viel zu langsam wird, um das Ziel zu erreichen. Das ist vor allem dann relevant, wenn unerfahrene Leute dahinten am Seil hängen. Und ohne Seil zu gehen, was natürlich immer eine bessere Option ist, als einen Totalabsturz der ganzen Seilschaft zu riskieren, will er schon gar nicht. Einerseits hat er Angst, belangt werden zu können, wenn einem seiner Schutzbefohlenen etwas passiert. Er hat schließlich angewiesen, auf das Seil zu verzichten. Der Staatsanwalt und „Grobe Fahrlässigkeit“ schwebt wie ein Damoklesschwert über seinem Haupt.

Und zum anderen, und seltsamerweise habe ich das in den vielen klugen Artikeln zum Thema noch nirgendwo gelesen, hat er Angst, sich selbst überflüssig zu machen. Wieso brauche ich überhaupt jemanden, der mich führt und den ich womöglich dafür bezahlen muss, wenn ich ohne Seil gehen soll? Das fragt man sich dahinten womöglich. Doch manchmal muss man das leider zwingend, weil sonst die Zeit eben nicht reicht oder weil gefährliche Passagen eine hohe Gehgeschwindigkeit erfordern.

Und wenn es dann zu steil wird, wie hier im oberen Teil der Breithornordwand oder der Partner unsicher wird oder beides, dann Seil raus, ein Fixpunkt gebaut und gesichert.

Und hier sind wir beim nächsten Grund. Jeder, der hinter dem Führenden am Seil hängt, sollte verstehen, warum dieser so oder so entscheidet. Und vor allem muss er dann in der Lage sein, die Anforderungen zu erfüllen, die diese Entscheidung mit sich bringt. Wenn es für das Ziel notwendig ist, sich in einem 30 oder 40 Grad steilen Firnfeld mit seinem Pickel und den Steigeisen seilfrei zu bewegen, dann sollte er das können. Und kann er das nicht, dann muss er das zugeben und die gesamte Seilschaft muss umkehren oder Fixpunkte bauen.

Doch wer gibt sich schon gern diese Blöße vor seinen Bergkumpels, mit denen er ja nachher auf der Hütte noch ein paar Obstler trinken will und zwar ohne die Zielscheibe beißenden Spotts zu sein? Da ist es leichter, darum zu bitten, weiter am Seil gehen zu können, denn dafür sei der Führende ja schließlich engagiert worden. Und genau dieser Bittende ist es dann, welcher womöglich alle in die Tiefe reißt.

Oft muss man improvisieren beim Fixpunktebau. Aber ein wackliger Fixpunkt hält dennoch so viel mehr als ein Mensch mit dem kurzen Seil. Der hier war aber keineswegs wacklig.

Dieses Schamgefühl, wenn man plötzlich feststellt, der selbst gestellten Herausforderung rein von seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten gar nicht gewachsen zu sein, ist womöglich der wichtigste Grund für solche Tragödien. Das Schamgefühl bei der Erkenntnis, es nicht draufzuhaben: Was? Gleitendes Seil? Fixpunktsicherung? Steigklemme? Nie gehört! Meine Waden brennen wie verrückt! Ich friere! Da kommen uns andere sogar schon vom Gipfel entgegen! Ich habe bezahlt! Geht es jetzt endlich mal weiter?

Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wahnsinnig schwierig es ist, mit der Faust auf den nicht vorhandenen Tisch zu hauen und einfach umzukehren. Dann auch mit denen, die sich vorbereitet haben, die der Sache sehr wohl gewachsen sind, die es drauf haben, die auch mental stark genug für die Anforderungen des Berges sind. Wegen dem einen, den man mitgenommen hat, obwohl man vielleicht schon ahnte, dass er Probleme machen könnte, müssen nun alle umkehren. Der Zorn wendet sich dann womöglich gegen Dich! Und dann auch nicht ganz zu Unrecht.

Andreas genau an der Stelle, wo es am Nirekha Peak in der Everest-Region des Himalayas vom Fels auf das Eis geht. Wir kratzen an dieser Stelle schon knapp an der 6000-Meter-Grenze. Das hier ist fast noch Gehgelände. Aber in dieser Höhe werden die Karten neu gemischt. Hier muss zwingend ein Fixseil oder eine Fixpunktsicherung her. Alles andere ist fahrlässig. Denn mindestens auf dem Abstieg mit zehn oder zwölf Stunden Aufstieg in den Knochen sieht die Welt anders aus als 3000 Meter weiter unten in den Alpen.

Wer sich einem Führer anvertraut, sollte sich von ihm den Weg zeigen und sich inspirieren lassen, von seiner Erfahrung profitieren und vor allem von ihm lernen. Er soll sich auch führen lassen. Doch er darf ihm niemals zu 100 Prozent sein Leben anvertrauen und denken, dass er diese Verantwortung auch wirklich zu 100 Prozent übernehmen kann. Das kann er nämlich nicht. Denn er ist ein Mensch. Er kann Fehlentscheidungen treffen, selbst unsicher oder schwach sein, weil er zum Beispiel einen ganz miesen Tag hat. Gründe dafür kennt jeder bei sich selbst zur Genüge.

Wach sein, Hinterfragen, Nach- und vor allem Mitdenken, Wissen, Fitsein und ganz besonders Können. Das sind die Überlebenselixiere in den Bergen. Und für die ist nun mal jeder selbst verantwortlich.

Hier gleitet unser Seil am Arbengrat in Zermatt entlang. Das Gelände ist einfach, die Zwischensicherungen dementsprechend spärlich gelegt. Aber mehr waren auch nicht nötig. Denn Sven dahinten weiß, was er tut, und ich weiß das ebenfalls. Außerdem muss man auch sehen, dass man vorwärts kommt am Arbengrat.

 

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6 Antworten

  1. Lukas sagt:

    Wahnsinnig guter und wichtiger Beitrag! Jeder, der in den Bergen unterwegs ist – sei es auch ein noch so leichter Steig – sollte sich mit diesen Gedanken auseinandersetzen und sich dessen bewusst sein. Danke dafür!

  2. Katja sagt:

    Sehr geehrter Herr Rieck, dann muss ich mich ja nicht schämen, dass ich eine Bergbesteigung abgebrochen habe.Es ging nur um den Ortler, für mich schon eine Herausforderung, da ich das Jahr zuvor über die Höllentalklamm die Zugspitze über den mittelschweren KS geschafft habe, aber da fühlte ich mich sicher, da ich mich immer sichern konnte. Am Ortler war das anders. Die professionellen Bergsteiger sind ab der Payer Hütte gleich mit ihren zahlenden Kunden angeseilt los und ich wurde von meinem Lebenspartner (Steffen, der im nächsten Jahr mit Ihnen nach Nepal reist) erst später ans Seil genommen, auch aus dem Grund, dass man nicht so vorwärts kommt. Leider kam für mich eine schwierig zu überwindende Stelle und das Kopfkino begann. Was ist, wenn ich abrutsche, mich nicht mehr halten kann, reiße ich doch den Steffen mit vom Berg und ich komme doch hier nie mehr runter, wenn ich weiter aufsteige. Wir haben die Besteigung abgebrochen, kurz vorm Gletscherfeld. Ich saß erstmal auf dem Fels und habe geweint, enttäuscht über mich und meinem Partner das Gipfelglück genommen zu haben. Letzten Endes war die Entscheidung richtig, es sollte nicht sein, es war nicht mein Tag, wenn der Kopf nicht mitgespielt hat. Man gehört dem Berg, solange man nicht wieder unten ist und ein Berg verzeiht keine Fehltritte, Fehlentscheidungen oder Selbstüberschätzung .Vielleicht nehme ich eines Tages nochmal den Berg in Angriff…..Berg heil an alle Bergsteiger🙋‍♀️

    • Olaf Rieck sagt:

      Hallo Katja,
      umzukehren ist so gut wie immer die richtige Entscheidung, wenn man kein gutes Gefühl bei der Sache hat. Und ganz sicher ist, dass man sich für die Entscheidung zur Umkehr niemals schämen muss. So viel steht fest!

  3. Katja sagt:

    Dankeschön für das Feedback! In dem Moment war die Enttäuschung über sich selber schon sehr groß und gegenüber dem Partner. Aber inzwischen stehe ich dazu und weiß, dass sie für den Moment richtig war. Beste Grüße, Katja

  4. Kai Bittner sagt:

    Hallo Olaf,
    wie immer ein sehr gut geschriebener Beitrag zum Thema Seilschaft. Ich bin ja nun wahrlich auch nur Laie in Sachen Klettern/Bergsteigen, war aber dieses Jahr auch auf dem Ortler. Und dieses Thema Seilschaft treibt mich seither um. Es ist und bleibt in vielen Situationen eine trügerische Sicherheit…aber es stimmt eben auch, das man trotzdem ein gewisses Gefühl der Sicherheit bekommt wenn man am Seil geht…Kopfsache eben…vor allem bei unerfahrenen Leuten.
    Nicht ganz einfach da immer richtig zu entscheiden. Es gab auch am Ortler genug Stellen…wenn da im falschen Moment einer abschmiert…gehen alle mit. Auch die Bergführer, die ja fast immer unerfahrene Leute am Seil haben, begeben sich aus meiner Sicht da immer in eine nicht unerhebliche Gefahr. Die machen das ja ständig.

    Beste Grüße aus dem Erzgebirge

    Kai

  5. Thomas Schmidt sagt:

    Toller Beitrag Olaf !!!
    Ich leite den gleich an meine Nepal-Gruppe weiter: wird 100%ig sein, dass wir auch in solche Situationen kommen – diesbzgl. dann eine Entscheidung treffen müssen – meine Freude werden mich dann vielleicht besser verstehen…

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