Alpinisten in der Hölle, Teil 2

Die Katastrophe für Witali Abalakow begann mit der Reise des Bruders von Lorenz Saladin und einer Journalistin nach Moskau. Die beiden trafen sich mit Überlebenden der Khan Tengri-Expedition, darunter Witali Abalakow und Georgi Charlampiew. Die Russen übergaben Petrus Saladin die Habseligkeiten seines toten Bruders. Die Schweizer schenkten dem fotobegeisterten Alpinisten Georgi Charlampiew die Leica-Kamera des toten Lorenz. Ein fatales Geschenk.

Dieses Treffen erregte die Aufmerksamkeit des sowjetischen Geheimdienst NKWD. Georgi Charlampiew wurde verhaftet. Sie fanden die Kamera bei ihm und Fotos von der Expedition. Man unterstellte ihm Spionage, er wurde gefoltert und irgendwann gestand er die absurdesten Verbrechen. Und er denunzierte wahllos Kameraden, unter anderem Witali Abalakow. Einen Monat nach seiner Verhaftung hat man Charlampiew erschossen.

Sofort wurde auch Witali verhaftet und brutal gefoltert. Die Zähne wurden ihm ausgeschlagen. Mit unvorstellbarer Grausamkeit schlugen ihn die Folterknechte wieder und wieder auf die noch nicht verheilten Stümpfe seiner Hände und Füße, die er sich nur Monate zuvor am Khan Tengri erfroren hatte. Mehrfach verlor er bei den Verhören das Bewusstsein.

Witali Abalakow Anfang der Sechziger Jahre. (Foto: Wikipedia)

Die Folterprotokolle sind heute einsehbar. In den tage- und wochenlangen Verhören beschuldigten sich die Freunde und Bergkameraden gegenseitig der widersinnigsten Verbrechen. Er hätte Spione ins Grenzgebiet geführt, ihnen ermöglicht, die Rote Armee zu beobachten und zu fotografieren. Er hätte die kommunistische Ideologie verraten und Terroranschläge geplant. Teilweise sind die Geständnisse so lächerlich, dass es kaum zu glauben ist, dass ein Mann wie Witali sie zu Protokoll gegeben hat. Es ging sogar soweit, dass er ein Schriftstück unterschrieb, in dem er gesteht, dass er mit Seil und Pickel auf dem Roten Platz in Moskau aufmarschieren wollte, um die Parteispitze zu erschiessen.

Es war die Zeit des stalinistischen Terrors. Sie begann in den zwanziger Jahren und hielt bis zum Tod Stalins 1953 an. Den Höhepunkt erreichte diese sogenannte „Große Säuberung“ in den Jahren 1936 bis 38. Schätzungen von Historikern beziffern die Zahl der Opfer auf mindestens 8 Millionen, andere Quellen sprechen von bis zu 22 Millionen Menschen. Unvorstellbar!

Doch plötzlich weigerte sich Witali Abalakow. Er unterschrieb keine Geständnisse mehr. Er lehnte sich auf. Sollten sie ihn doch totschlagen. Er schrieb sogar Beschwerdebriefe. Und ein anderer Umstand ist ebenfalls äußerst bemerkenswert und rettet ihm vermutlich das Leben. Sein Bruder Jewgeni hatte den Mut, Witali beizustehen. Er organisierte ihm einen Anwalt, der im Februar 1940 tatsächlich einen Prozess erwirken konnte. Und etwas ganz unerhörtes geschah. Wegen „unbelegter Anschuldigungen“ kam Witali Abalakow frei.

Wie viel Willens- und vor allem Widerstandskraft Witali aufgebracht haben muss, um dem Terror des berüchtigten NKWD zu trotzen, ist kaum vorstellbar. Doch um zu ermessen, um was für einen ungeheuer starken und zähen Menschen es sich bei Witali handelt, muss man sich sein Leben nach seiner Haftentlassung anschauen.

Der Mann mit den verstümmelten Händen und Füßen wird für die nächsten fast 20 Jahre wieder zu einem der führenden sowjetischen Alpinisten. Er war regelrecht gefürchtet wegen seiner eisernen Disziplin, die er sich selbst auferlegte, aber auch von seinen Expeditionsteilnehmern einforderte.

Er führte in den 20 Jahren nach seiner Freilassung viele Expeditionen unter anderem auf fast alle 7000er der Sowjetunion. Nur der höchste, der 7495 m hohe Pik Stalin, blieb ihm bis zum Schluss verwehrt. 1962, inzwischen schon 56 Jahre alt, versuchte er eine neue Route in der noch undurchstiegenen Südwand dieses Berges. Doch er scheiterte und beendete wenig später seine alpinistische Karriere.

Der höchste Berg der ehemaligen Sowjetunion und heute von Tadschikistan: Der 7495 m hohe Pik Ismail Samani, der bis 1998 unter dem Namen Pik Kommunismus bekannt war und bis 1962 Pik Stalin hieß. (Foto: Wikipedia)

Aber auch nach seiner aktiven Laufbahn blieb Witali über viele Jahre hinweg die höchste Autorität für alle Bergsteiger im Land, war ihr Lehrer und Ratgeber.

Zum Schluss müssen wir noch den Blick auf die andere Seite des Witali Abalakow werfen. Und nun sind wir wieder bei der Eissanduhr. Diese geniale Idee, die seinen Namen unsterblich gemacht hat, war bei weitem nicht seine einzige.

Der diplomierte Maschinenbauingenieur wendete sich nun mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit ganz dem Problem der Sicherheit in den Bergen zu. Das wurde in den folgenden Jahren seine Obsession.

In der UdSSR herrschte an allen Ecken und Enden Mangel. Die Bergsteiger mussten sich ihre Arbeitsgeräte selber bauen. Witali arbeitete als Konstrukteur im Zentrallabor für sportliche Ausrüstung in einer eigenen Werkstatt. Er entwickelte und baute einen Vorläufer des Jümars (Steigklemme) und verschiedene andere Sicherungssysteme. Witali perfektionierte Felshaken, verbesserte die damals verwendeten Steigeisen, und verstand schon früh die zukünftige Bedeutung von Kurzpickeln. An ihnen brachte er eine abnehmbare Schaufel an, um damit besser Schneehöhlen graben zu können. Er entwickelte Schlafsäcke, Rucksäcke und die „Shackletons“. Das sind sehr warme, für große Höhen geeignete Bergstiefel. Hätte er damals am Khan Tengri diese Schuhe schon getragen, wären ihm die Erfrierungen an seinen Füßen erspart geblieben.

Er beschäftigte sich auch mit Akklimatisierungsstrategien sowie Ernährungs- und Trainingsplänen. Er meldete Patente an. Die von ihm entwickelten Ausrüstungsgegenstände fanden teilweise millionenfache Verbreitung. Im Westen wäre er ein steinreicher Mann geworden.

Am erfolgreichsten war sein Rucksack „Abalakow“, von dem hunderttausende verkauft wurden und der noch heute den ein oder anderen russischen Wandererrücken drückt.

Das Grab von Witali Abalakov auf dem Kuntsevskoe-Friedhof in Moskau. Hier liegt er gemeinsam mit seinem Sohn Oleg, der 1993 bei einem Busunglück ums Leben kam. (Foto: Wikipedia)

Doch das einzige, was in den Köpfen übrig blieb, der einzige russische Name in der gesamten Nomenklatura des Alpinismus bezeichnet seine Idee von der Eissanduhr.

Witali Abalakow starb im Alter von 80 Jahren am 26. Mai 1986 in Moskau.

zum Teil 1

Die Hauptquelle für diesen Blogbeitrag ist das 2021 im Tyrolia-Verlag erschienene Buch von Cédric Gras „Stalins Alpinisten – Der Fall Abalakow“.

Dieses Buch ist unbedingt lesenswert, bewahrt es doch zwei absolute Ausnahmealpinisten und ihre bewundernswerten Leistungen vor dem Vergessen.

Herzlichen Dank an Christian Pech, der mich unter vielem anderen auch zu diesem Artikel inspiriert hat.

 

 

 

 

 

 

 

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Eine Antwort

  1. Christian Pech sagt:

    Lieber Olaf, Danke für die Blumen :-))
    Als Ergänzung zum Thema kann man die beiden Bücher von Satulowski „In Firn und Fels der Siebentausender“ und „Auf den Gletschern und Gipfeln Mittelasiens“ lesen. Bekommt man antiquarisch. Die Bücher sind zwar in einem recht heroischem Stil geschrieben (war halt in den 1950igern so), man bekommt aber einen guten Eindruck von den Leistungen der sowjetischen Alpinisten während der Erschließung des Pamirs und Tien Shans.

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