Alpinisten in der Hölle, Teil 1

Wie bei so vielen großen und kleinen Erfindungen auf dem weiten Feld des Alpinismus gerate ich regelmäßig ins Schwärmen, wenn ich eine Eissanduhr baue. Absolut genial diese Idee! Denn wenn man im Eis unterwegs ist, zum Beispiel an gefrorenen Wasserfällen oder in Flanken mit Blankeis, dann hat man auf dem Rückzug ein Problem. Woran kann ich im Eis abseilen? Es gibt zwar einige Möglichkeiten. Aber die sind oft mit immensem Aufwand oder dem Verlust von wertvollem Material verbunden. Von Eisschrauben zum Beispiel. Eine einzige derartige Schraube kostet heutzutage zwischen 70 und 90 Euro. Äußerst bitter, wenn man ein solch wertvolles Stück im Eis zurücklassen muss.

Doch da schafft die erwähnte Eissanduhr Abhilfe. Witali Michailowitsch Abalakow hat sie sich ausgedacht. Buchstäblich jeder, der häufiger im Eis oder an hohen Bergen unterwegs ist, kennt diesen Namen. Ich selbst habe inzwischen Hunderte solcher Eissanduhren gebaut, wenn ich irgendwo wieder runter musste. Diese Möglichkeit, einen sicheren Fixpunkt im Eis bauen zu können, ist geradezu ein Geschenk an uns Alpinisten.

Mit einer Eisschraube werden in einem Winkel von etwa 60 ° zwei Löcher in das Eis gebohrt. An der tiefsten Stelle sollten sich diese Löcher treffen. Und dann wird mit einem Fädler eine Reepschnur durch dieses nun entstandene Loch im Eis gezogen und verknotet. An dieser Reepschnur kann nun leicht abgeseilt werden. Es bleibt also lediglich ein Stückchen dünnes Seil zurück. Sensationell einfach, sicher und billig.

Eine solche Eissanduhr in perfektem Eis hält locker zwei Tonnen. Die Reepschnur aber nicht. Sie ist hier der limitierende Faktor. Je dicker sie ist, umso besser. Aber solche Reepschnüre halten eine Menge. Die hier ist 6 mm dick und hält somit 720 kg. Für mich reicht es also. Falls sich jemand fragt, wie ich auf die 720 kg gekommen bin: Die Formel lautet Durchmesser der Reepschnur zum Quadrat x 20.

Aber ehrlich gesagt habe ich mich nie wirklich gefragt, wer dieser Abalakow eigentlich gewesen ist? Dass er aus Russland stammt und dort in den dreißiger Jahren zu alpinistischer Berühmtheit gelangt ist, das wusste ich. Mehr aber auch nicht. Dabei wäre die Geschichte Witali Abalakows einen Hollywoodblockbuster wert.

Witali Abalakow wurde 1906 in einem kleinen Dorf in Sibirien am Oberlauf des Jenissei geboren. Die Mutter starb bei der Geburt seines Bruders, als Witali ein Jahr alt war. Der Vater, ein gut situierter Kaufmann, verließ die Familie auf der Flucht vor den Bolschewisten. Der Onkel väterlicherseits, ein angesehener Geschäftsmann, nahm die beiden Brüder auf.

An einem Winterabend des Jahres 1920 saß die ungewöhnliche Familie am Abendbrottisch, als es an der Tür trommelte. Ein Rotgardist stand davor und zeigte stolz einen Haftbefehl. Als wohlhabender Geschäftsmann war der Onkel ein Volksfeind. Als die beiden halbwüchsigen Jungs die Haustür versperrten, um zu verhindern, dass ihr Onkel abgeführt wird, wurden auch sie verhaftet.

Die Tante lief dem Rotgardisten nach, steckte ihm Leckereien und reichlich Wodka zu und rettete so den Brüdern das Leben oder bewahrte sie zumindest vor dem Gulag. Der Onkel wurde zum Tode verurteilt.

Als Söhne wohlhabender, dem Zaren ergebener Kosaken hassten die beiden die Oktoberrevolution. Sie hatte die Brüder ins Unglück und in die Armut gestürzt. Da ist es kein Wunder, dass sie immer öfter der nur schwer erträglichen Realität zu entfliehen versuchten. Sie begannen zu klettern.

Die Brüder Jewgeni (links) und Witali Abalakow im Jahr 1920. (Foto: Wikipedia)

Ihre ersten Erfahrungen am Fels machen die Brüder im „Stolby“, einem Klettergebiet unweit von Krasnojarsk. Hier herrschte ein fast schon anarchischer Geist, hier trafen sich die Deportierten und Anarchisten und kampierten wochenlang in Höhlen unter den Felsen. Der Geist der Oktoberrevolution hatte die beiden noch nicht erfasst.

Das änderte sich, als sie nach Moskau zum Studium gingen. Sie bereinigten ihre Vergangenheit, waren berauscht von der Aufbruchstimmung. In ihnen fand eine Umwälzung statt. Sie schlossen sich der Revolution an, die ihre Familie zerstört und ihr Vermögen konfisziert hat. Die Revolution war brutal, doch ihr Zweck, der Aufbau einer strahlenden kommunistischen Zukunft, heiligte diese Mittel. Es war das kurze Aufflackern einer verheißungsvollen Zeit, welches aber bald wieder erlosch. Doch das konnten die Brüder noch nicht wissen. Sie kämpften nun für den Sieg des Sozialismus.

Anfang der Dreißiger Jahre, die Brüder waren Mitte Zwanzig, brachen sie gemeinsam zu ihren ersten großen Reisen auf. Ihr Ziel war der Kaukasus. In der Alpinismussektion der Gesellschaft für proletarischen Tourismus lernten die beiden Brüder sehr schnell. Die ersten Sporen verdienten sie sich bei einer haarsträubenden und erfolglosen Rettungsaktion. Unbeeindruckt von der Tragödie mit vier Toten bestiegen sie den Dychtau, der mit 5205 m zweithöchste Gipfel des Kaukasus. Es war die Erstbesteigung dieses schwierigen Berges. Von nun an kannte man ihre Namen in der Welt des sowjetischen Alpinismus. Dieser Aufstieg legte den Grundstein für den späteren Ruhm der Brüder Abalakow.

Auf dem Gipfel des Khan Tengri am 5. September 1936. (Foto: Lorenz Saladin, © Tyrolia)

Und von nun an ging es Schlag auf Schlag. Unter anderem führte Witali die erste sowjetische Expedition erfolgreich auf den Pik Lenin (heute Pik Ibn Sina, 7134 m). Sein Bruder stand als erster Mensch auf dem 7495 m hohen Pik Stalin, der später in Pik Kommunismus umbenannt wurde und heute nach dem Emir des Samanidenreichs (849 – 907) Pik Ismail Samani benannt wird.

Die Geschichten über die Abenteuer der beiden Brüder sind eine einzige Abfolge von unbeschreiblichen Strapazen, Leid und Tod. Ihre Ausrüstung war dürftig, in der damaligen Sowjetunion herrschte eine beispiellose Hungersnot, hervorgerufen durch die von Stalin mit brutaler Gewalt durchgepeitschte Kollektivierung der Landwirtschaft. Schätzungen zur Folge fielen sieben bis acht Millionen Menschen diesem Jahrhundertverbrechen Stalins zum Opfer.

Jewgeni links und Witali 1936 nach ihrer Rückkehr vom Khan Tengri. (Foto: Wikipedia)

Ständig litten auch die Alpinisten Hunger und zu allem Überfluß mussten sie riesige Wetterstationen und Stalin-Büsten auf die Gipfel schleppen.

Dann kam die Expedition zum Khan Tengri 1936, die in Witalis Leben eine furchtbare Zäsur auslöste.

Am 5. September 1936 stand der Schweizer Lorenz Saladin mit vier sowjetischen Alpinisten auf der Spitze des Khan Tengri. Seine Begleiter waren die Brüder Abalakow sowie zwei weitere sowjetische Bergsteiger. Im Abstieg wurde die Seilschaft von einem Schneesturm überrascht. Tagelang kämpften sie um das nackte Überleben. Die Temperaturen sanken auf minus 30 Grad, die Ausrüstung war vollkommen unzureichend, ein Teilnehmer stürzte, es folgten Hunger, Erschöpfung und Tod.

Der 7010 m hohe Khan Tengri. (Foto: Wikipedia)

Lorenz Saladin zog sich verheerende Erfrierungen zu. Mit seinem Taschenmesser schnitt er das erfrorene, entzündete Fleisch an Händen und Füssen ab. Die Wunden desinfizierte er mit Petroleum. Vermutlich kam es dabei zu einer Blutvergiftung. Am nächsten Tag war der Schweizer Alpinist tot. Seine Kameraden überlebten. Aber auch Witali kehrte, von massiven Erfrierungen an Händen und Füßen schwer gezeichnet, vom Khan Tengri zurück.

Witali blieb zwar am Leben, doch nur wenige Monate später holte ihn diese Expedition auf eine ganz andere und noch viel grausamere Weise wieder ein. Dazu mehr im Teil 2.

Ende Teil 1

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4 Antworten

  1. Christian Pech sagt:

    Das ist ja wieder eine spannende Geschichte! Heute kann man sich diese Verhältnisse (politisch und am Berg) kaum vorstellen.
    Zum Thema Eissanduhr: Hat Abalokow die wirklich erfunden oder wird sie ihm nur zugeschrieben? Im „allwissenden“ Internet findet man dazu nichts. In seinem Buch Die Grundlagen des Alpinismus von 1952 steht auch nichts darüber drin. Allerdings gab es damals noch keine Rohreisschrauben.
    Hast Du bei Deinen Recherchen etwas darüber gefunden?

    • Olaf Rieck sagt:

      Hallo Christian, vielen Dank für Deinen Kommentar! Deine Frage kann ich Dir nur insofern beantworten, dass ich etliche Stellen im Internet aber auch in russischen Veröffentlichungen gefunden habe, die alle angeben, dass die Eissanduhr auf Witali Abalakow zurückgeht. Deshalb gehe ich mal davon aus, dass diese Information stimmt. Vielleicht gibt es ja demnächst noch mehr Wortmeldungen zu dieser Frage hier bei den Kommentaren.

  2. Ingrid Hoppe sagt:

    Lieber Olaf, hab gerade deinen spannenden Beitrag gelesen, dein unglaubliches Wissen über dies alles.
    Ich hab einen Beitrag gefunden der belegt dass die Eissanduhr von Witali Abalakow ist.
    Der Titel lautet „Zwei Schlüsselfiguren des sowjetrussischen Bergsteigens“
    Deine Bilder wie du die Eissanduhr baust, einfach genial. Die Erfindung hätte auch glatt von dir kommen können.
    Liebe Grüße Ingrid

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