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Weiter gen Gipfel, 30.10.-04.11.02

30. Oktober (Carsten)

Heute hatten Olaf und ich Grosses vor. Wir wollten die Fixseilstrecke ausbauen. Diese führt auf über 500 Höhenmetern durch extrem eisschlaggefährdetes Gebiet. Also müssen wir uns wieder beeilen. Unsere ersten zwei Fixseile erreichen wir ohne Proleme. Wir sind sogar noch schneller als das letzte Mal. Bestens. Als nächstes spannen wir zwei Seile über je 100 m. Das erste verläuft relativ problemlos. Aber bei dem Zweiten müssen wir durch eine Eisrinne klettern. Und wenn ich mir eine 20 Meter hohe Eisschuppe, die direkt ueber uns absturzbereit droht, anschaue, kann ich sie vor meinem geistigen Auge durch unsere Rinne abpfeifen sehen. Das wäre wohl unsere letzte Schlittenfahrt. Doch die Schuppe hält und so bleibt die Gefahr bestehen.

Jetzt folgt das steilste Stück unserer Kletterpartie. Und als wir es überwunden haben, erwartet uns ein flacher Gletscherhang. Nun wühlen wir uns also durch Tiefschnee. Andere nennen es „spuren“. Aber die Fortbewegung auf allen Vieren lässt anderes vermuten. So kämpfen wir uns auf den nächsten Hügel, um Einsicht zu erhalten. Dieses gelingt nur teilweise. Die Gegend ist verdammt unübersichtlich. In Zukunft werden wir dabei Hilfe brauchen. In über 6100 m Höhe legen wir ein Materialdepot an und beschliessen, für heute umzukehren.

31. Oktober (Vera)

Nach diesem ersten Versichern der Route durch Olaf und Carsten gestern, steigen Lydia und ich mit Olaf heute hinauf. Wir testen sozusagen die Fixseilstrecke und ausserdem bringen wir neue Seile, Markierungsfähnchen und Schneeanker nach oben. Zum ersten Mal quere ich die Eisschlagzone, immer mit dem Blick nach oben. Trotz Schnelligkeit können wir nicht sicher sein, dass uns die Eisbrocken verschonen. So erreiche ich keuchend das erste Fixseil und kann mich mit meiner Steigklemme einklinken und unter einem Balkon, der uns glücklicherweise schützt, erst einmal durchatmen.

Ab da geht es nur noch steil, doch immer am Fixseil gesichert, nach oben: Olaf steigt vorneweg, Lydia nach ihm, dann komme ich. Nach vielleicht 150 Metern höre ich einen Schrei von Olaf. Reflexartig schaue ich nach oben und sehe drei kleine Eisbrocken auf mich zurasen. Durch den Helm geschützt ducke ich mich an die Eiswand und bete, dass mich keines dieser Geschosse erwischt. Lydia und Olaf sind aus der Gefahrenzone schon heraus, doch ich habe nicht soviel Glück. Alles geht sehr schnell und das grösste Eisstück berührt meinen Rucksack. Zum Verdauen bleibt mir keine Zeit. Ich muss heraus, oder besser schnell herauf, aus dem gefährlichen Bereich. Für den Rest der Bergbesteigung sollte es die einzige Attacke dieser Art bleiben.


Unser Hochlager vor der Kulisse des Num Ri

Am Ende der bisher versicherten Strecken vergrössern wir das Materialdepot und Olaf sieht sich nach einem möglichen Fortgang um. Um ca. 50 Meter erhöhen wir den gespurten Weg, dann sind wir nicht mehr sicher, wo es weitergeht. Erschwert wird das Emporsteigen durch, die unsere Rucksäcke weit überragenden Markierungsfähnchen. Sie bohren sich oft in den steilen Schneehang über uns. Olaf steigt, von uns gesichert, weiter nach oben. Doch das war zu viel des Guten. Er muss wieder umdrehen und sich abseilen. Mittlerweile ist die Umkehrzeit erreicht (16.00 Uhr) und so steige und seile ich wieder ab, diesmal in umgekehrten Reihenfolge.

Olaf kämpft noch mit dem starren Seil an seinem Abseilpunkt. Lydia und ich können ihm nicht helfen. Doch nach einer ganzen Weile schließt er zu uns wieder auf. Doch da ist die Zeit schon weit fortgeschritten und es ist abzusehen, daß die Dunkelheit uns eher erreicht, als wir unser High Camp. Aber wir haben Stirnlampen dabei und so ist es kein Problem. Allerdings muss ich mich noch einmal voll konzentrieren. Der Weg hinauf war sehr anstrengend und wir haben unterwegs nicht so viel zu uns genommen, so ist der Körper ausgelaugt. Ein Fehler kann dann böse Folgen haben.

Es geht alles gut und von Carsten mit Tee erwartet, entledigen wir uns unserer Ausrüstung und können endlich entspannen. Unsere Körper verlangen nun nach Flüssigkeit, weniger nach fester Nahrung und natürlich nach Schlaf und Ruhe.

1. November (Vera)

Diese Ruhe gönnen wir uns auch an diesem Tag. Keiner steigt in die Route ein und versichert weiter. Dafür schlafen wir Vier (Carsten, Lydia, Olaf und ich) genüsslich aus und warten bis ca. 9.00 Uhr. Zu dieser Zeit erreichen die ersten Sonnenstrahlen unsere Zelte und wir verschlingen ein leckeres Frühstück. Meist wird nach einer Hochlagernacht auch die Lawinenanzahl und- größe, die während der vergangenen Nacht zu Tal gegangen waren, ausgewertet und dann mit dem Fernglas die Örtlichkeit ermittelt. Die Lautstärke gibt schon viel Aufschluss über die Grö?e der Lawinen, zumal wir auch sehr nah dran sind, doch nie erreicht werden.

Nach vielen Tassen Tee und den wichtigen Gesprächen und Geschäften des Tages ebnen Carsten und ich den Boden für das Drei-Mann-Zelt neu. Wir hatten beim ersten Aufstellen wenig Zeit und die Dunkelheit drohte wieder einmal. Doch am heutigen Ruhetag haben wir Zeit dafür.


Vera und Carsten auf dem Weg ins Hochlager

Ein weiterer Dienst ist das Eisholen. Um Wasser gewinnen zu können, müssen wir Eisbrocken schmelzen. Und da das Trinken eine Hauptaufgabe ist, muss genug von diesen Eisbrocken vorhanden sein. Olaf und Carsten übernehmen dies und vergrössern unseren Vorrat. Dafür müssen sie Helm und Steigeisen anlegen, sich einen Pickel greifen und zu unserer Tankstelle stapfen. Dank des Eisschlages gibt es genügend dichtes Blankeis, nur liegt es in der eisschlaggefährdeten Zone. Da heisst es wieder: schnell sein!

Derweil funken Lydia und ich mit dem Basislager und erfahren, dass Reinhardt und Marcus heute heraufkommen und dringend benötigten Brennstoff und Nahrung mitbringen. Dirk geht es nicht so gut und er fragt unsere Medizinfrau Lydia nach Medikamenten. Per Funk ist die Erstellung einer Diagnose und der Behandlungmethode immer spannend. Doch Lydia erledigt das ganz souverän. Dirk muss seine Symptome durchgeben und Lydia weist ihm den Weg durch den Medizinkoffer. Er findet die Pillen sofort und ist zufrieden.

So geht der Tag schnell herum. Die beiden Emporkömmlinge erwarten wir am späten Nachmittag mit Tee. Neuigkeiten werden ausgetauscht. Dann wird gekocht, wieder getrunken und geschlafen.

2. November (Vera)

Auf dem Programm des heutigen Tages steht wieder gross: „Arbeiten und Vorantreiben der Route!“ Dies übernehmen Olaf und Carsten, diesmal unterstützt von Reinhardt. Damit sie genug Zeit haben und nicht wie vor zwei Tagen in die Dunkelheit kommen, brechen sie schon um 9.00 Uhr auf.

Während sie sich ankleiden und die Ausrüstung anschnallen, geht eine riesige Lawine ab. Wir sind alle geschützt, doch die Staubwolke ist immens und lässt uns ein wenig erschüttern. Die Fotografen unter uns haben natürlich ihren Apparat sofort griffbereit und lichten das Schauspiel ab.

Marcus, Lydia und ich beobachten anschliessend das Höhersteigen der Drei. Sie kommen schnell voran. Ich bin erstaunt wie ausgesetzt und steil die Kletterei aussieht und erinnere mich, wie ich vor zwei Tagen selbst in der Wand hing und alles nicht so schlimm fand. Es sieht spektakulär aus, wie die mittlerweile zu kleinen Punkten gewordene Bergsteiger, den Durchschlupf zum zweiten Eisfeld schaffen. Über Funk sind sie mit dem Basislager (Dirk) und uns im Hochlager verbunden. Dies ist hilfreich, weil wir eine bessere Draufsicht über den gesamten Routenverlauf haben und ihnen dies mitteilen können. Für Detailfragen und Probleme, z.B. Spalten und Eis- und Schneebeschaffenheit sind sie selbst verantwortlich. Die Zusammenarbeit funktioniert hervorragend und so gelingt die Querung auf dem zweiten Eisfeld bis zu zwei Dritteln. Die Bedingungen sind nicht so günstig. Es gilt einen Weg durch Tiefschnee zu spuren.


Der Aufstieg vom Hochlager her gesehen.
Wer genau hinsieht kann 2 Bergsteiger erkennen.

All dies sehen Lydia und ich durch ein kleines Fernglas vom Hochlager aus. Wir haben einen weiteren Ruhetag. Marcus ist schon längst wieder auf dem Abstieg und schafft den angefallenen Müll herunter. Es gibt nicht viel zu tun, so dass wir ein Teekränzchen veranstalten. Wir trinken, schwatzen und schwatzen und trinken in einem fort. Körperlich gesehen geht es uns auf über 5700 Metern sehr gut. Allerdings warten doch noch zwei Aufgaben auf uns: das tägliche Eisholen (Vanille, Erdbeer oder Schoko?) und das Zubereiten des Abendessens für alle. Beides nehmen wir sehr ernst; fast zu ernst. So haue ich mir im Überschwange beim Eiszerschlagen mit dem Pickel an die Stirn. Mein Kopf ist zwar vorbildlich mit Helm, Mütze bis zu den Augenbrauen und Sonnenbrille gegen Eisschlag und Sonnenbrand geschützt, doch gegen meine eigene Schlagkraft wohl nicht. Das gibt ein dickes Hämatom auf der rechten Stirnseite. Eine Platzwunde wäre nicht so schön gewesen...

Für das Abendessen lassen Lydia und ich uns etwas Schmackhaftes einfallen: ein Buffet der kleinen Häppchen und Leckereien. Dank Dirk, er hat einen Fundus an Keksen, Hanutas und Riegelchen im Hochlager hinterlassen, richten wir eine Tafel an Herzhaftem: Bemmchen mit Leberwurst, Salami- und Käsestückchen, dicker Kartoffelsuppe und Süßem: Schokolade, Kekse mit Nudossi verziert, Mousse au Chocolat und Hustenbonbons an. Gummibärchen dürfen natürlich auch nicht fehlen!

Die Herren der Schöpfung sind überwältigt und glücklich. Sie fallen sofort über den gedeckten Tisch her und verschlingen nach einem anstrengenden Arbeitstag die Köstlichkeiten. Ihr Abtieg ging super schnell, nachdem sie auf dem zweiten Eisfeld ein Depot angelegt hatten. Laut Olaf ist der Weg zum Gipfel nun frei! Doch wir mussen uns im Basislager noch einmal zwei bis drei Tage ausruhen, dann können wir den Gipfelversuch starten.


Bei dieser Gletscherquerung müssen wir ständig auf der Hut sein. Spalten bedrohen den Weg.

3. November (Vera)

Über den heutigen Tag gibt es nichts Aussergewöhnliches zu berichten. Alle steigen vom Hochlager ins Basislager ab. Somit ist die vorbereitende Phase am Berg abgeschlossen. Über unser weiteres Vorgehen beraten wir mit allen im Basislager. Dort können wir wieder in allen Bereichen auftanken. Wir werden von unserer künstlerisch-wertvollen Küchen-Crew mit dem Titel "Dr. Dharmas Kitchen Team" reichlich bekocht (alle drei Burschen sind verkappte Sänger und begnadete Tänzer), nehmen diverse Vollwäschen und beobachten natürlich den Berg. Wird er uns trotz all der Lawinen wohlgesonnen sein?

4. November (Marcus)

Heute ist ein verdienter Ruhetag im Basislager. Der Ruhetag wird unter anderem dafür verwendet, die Taktik für den Gipfelaufstieg zu besprechen. Es sind zwei Gipfelteams geplant. Das erste Team (Olaf, Carsten, Lydia) soll morgen ins Hochlager aufsteigen, um einen Tag später den Gipfelversuch zu wagen. Die zweite Gruppe (Reinhardt, Vera, Dirk) soll einen Tag später folgen. Marcus verbleibt im Base Camp und hat die Aufgabe mit Funk und Fernglas eventuelle Anfragen der Gipfelgruppen via Funk zur Aufstiegs-Route zu beantworten, da der Weg zum Gipfel vom Base Camp aus mit Fernglas manchmal besser einzusehen war, als oben in Gipfelnähe. Das Besondere am Num Ri ist, dass man die gesamte Aufstiegsroute vom Base Camp aus verfolgen kann. Die Bergsteiger laufen Gefahr aufgrund der Größe des Berges die Orientierung zu verlieren und dann brauchen Sie dringend diese Navigation vom Base Camp aus.


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