Lager 1 erreicht, 23.-25.10.2002
24. Oktober (Olaf)
Um 5.00 Uhr morgens klingelte der Wecker. Heute sollte es das erste Mal hinauf in unser Hochlager gehen. Wir wollten den Weg über den Lhotse-Shar-Gletscher erkunden und den Weg hinauf in das 5640 Meter hoch gelegene Hochlager. Deshalb waren unsere Rucksäcke nicht ganz so schwer. Eigentlich hatten wir geplant, alle gemeinsam aufzubrechen, doch der Blick hinüber zum Fuss des Grates an dessen oberen Ende das Lager stehen sollte, liess uns dieses Vorhaben ändern. Wir wussten nicht, was uns auf dem Weg über den Gletscher erwartete. Niemand hatte eine Vorstellung, wie lange die Überquerung dauern oder wie schwierig es sein würde, überhaupt auf die andere Seite zu kommen. Deshalb gingen wir das erste Mal nur zu dritt (Reinhardt, Dirk und ich) und mit etwas leichteren Rucksäcken.
Aufbruch war für 6.00 Uhr angesetzt und fast pünktlich um halb sieben konnte auch Dirk losmarschieren. Zuerst ging es noch eine Weile die Moräne am Island Peak entlang, dann hinab auf dem gestern erkundeten Weg auf den gewaltigen Gletscher. Wir hatten den Platz für unser Basislager so gewählt, dass die Überquerung so kurz wie möglich war, dennoch hatten wir zirka vier Kilometer auf dem wild zerrissenen und von Geröllmassen bedeckten Eisstrom vor uns. Den Weg hier zu finden, ist nicht so einfach. Man ist von Geröllhügeln umgeben und verliert relativ rasch die Orientierung. Ständig mussten wir hinauf, um uns einen Überblick zu verschaffen, wie es weitergehen sollte. Die grobe Richtung wies uns allerdings ständig unser Berg. Wir kamen gut voran, sogar besser, als wir anfangs vermutet hatten. Richtig schwierig wurde es erst auf der anderen Seite. Da gab es nämlich keinen Weg hinauf auf den bestimmt 200 Meter hohen Geröllabbruch. Diese eindrucksvollen Geröllwände werden vom Gletscher geschaffen. Das Eis schiebt sich tief im Erdreich entlang, ähnlich einem Schiebeschild eines Bulldozers, der einen Graben aushebt.
Nachdem wir uns den steilen Hang aus absturzbereitem Geröll hinaufgearbeitet hatten, ging es 550 Höhenmeter über den mäßig steilen Grat aufwärts. Auch er war mit lockerem Gestein bedeckt, und wir mussten ständig auf der Hut sein. Das obere Ende dieses Grates und der Platz für unser Hochlager, ist übrigens auf der Grusspostkarte gut zu erkennen. Gegen Mittag erreichten wir die Stelle, wo unser Lager stehen sollte. Ob es wirklich ein lawinensicherer Ort war, ob man dort überhaupt ein Zelt aufstellen konnte, all das wussten wir natürlich nicht. Wir hofften einen guten Platz dort oben zu finden, wir haben dutzende Fotos ausgewertet, die uns das versprachen. Aber letztendlich war es doch eine Überraschung als wir ankamen. Ich habe kaum je an einem eindrucksvollerem Platz gezeltet. Rings um uns das gewaltige Panorama der Everest-Region und hinter uns zum greifen nah die Num Ri-Westflanke. Um die Flanke zu erreichen, muss man wieder ein paar Dutzend Meter absteigen und um die Westflanke zu erreichen fast hundert Meter über einen Grat laufen. Sicherer kann ein Biwakplatz gar nicht sein. Wir alle waren restlos begeistert. Nachdem wir unsere Sachen deponiert hatten, machten wir uns auf den Rückweg.
25. Oktober (Vera)
Nach diesem anstrengenden Auf-und Abstieg hatten sich die Drei einen Ruhetag verdient. Für Marcus, Carsten, Lydia und mich war es bereits der 4. Tag im mittlerweile gut eingerichteten Basislager. Eine gewisse Routine hat sich hier schon eingespielt. Ich versuche einmal einen ganz typischen Ruhetag zu skizzieren. Gegen 7.15 Uhr erreicht die Sonne unsere Zelte. Das ist der Startschuss fuer unsere Küchencrew, den "good morning tea" an uns auszuteilen. Wir liegen noch in den Schlafsäcken und geniessen diesen Service. Zu Trinken ist sehr wichtig, weil die Luft in der Höhe extrem trocken ist und wir dementsprechend viel Flüssigkeit verlieren: also müssen wir trinken, was das Zeug hält. Bevor der Tee gekocht werden kann, muessen jedoch die beiden Kuechengehilfen den anstrengenden Weg auf die gegenüberliegende Seite des Tales zurücklegen, um das kostbare Wasser zu holen.
Unser Basislager, im Hintergrund der Num Ri.
Nach und nach krabbeln alle aus den Zelten und verrichten ihre individuelle, sehr einfache Morgentoilette. Dann endlich, so gegen 8.00 Uhr ruft uns der "Topfgong" zum Frühstück. Porrige mit Muesli, Omlett und Toast, Marmelade, Erdnussbutter und Honig reichen aus, unseren Hunger zu stillen. Dazu gibt es reichlich warme Getränke. Doch genug zum Essen, denn schliesslich besteht ein Ruhetag nicht nur aus kulinarischen Genüssen, sondern zum Beispiel auch aus kulturellen. So verzieht sich jeder schnell nach dem Frühstück in sein Zelt oder sucht sich ein lauschiges Plätzchen im Windschatten des Küchen-oder Messzeltes und fängt an zu lesen. ...und was so bevorzugt als Lektüre verschlungen wird: "Sophies Welt", "Der Alchimist" von Paolo Coelho, Descartes "Meditationen ueber die erste Philosophie", "Das Spiel" von Steven King, und Fachliteratur über "Biodanza". Die Bandbreite liesse sich fortsetzen mit Montaignes allumfassenden "Essais", Klaus Kinskis "Ich brauche Liebe" und Erich Kästners "Als ich ein kleiner Junge war". Richtig wichtige Buecher sind auch dabei: "Trekking in the Everest Region", "Wege zur Gelassenheit", "Kinder fordern uns heraus" oder "Eine Frau erlebt die Polarnacht". Das sollte genügen. Natürlich wird fleissig getauscht. Beinahe hätte ich zwei Klassiker vergessen: "Die Lust an der Angst" und "Ein Leben ohne Wenn und Aber" (Collage über Reinhard Karl).
Gegen 13.00 Uhr verspeisen wir ein köstliches Mittagessen. Unser Koch, Dharma Tamang, kennt sich mit deutschen Essgewohnheiten hervorragend aus und so zaubert er jederzeit ein Festessen. Meist bedanken wir uns mit "standing ovations" und lautem Klatschen. Der Höhepunkt bis jetzt war eine mega-hohe Pizza mit Fleisch und Gemüse und als Nachtisch ein Schoko-Kokos-Kuchen.
Am Nachmittag packen wir unsere Rucksäcke für den morgigen Aufstieg ins HighCamp. Schnell wird es dann eiskalt. Zum Kaffee-Trinken schlüpfen wir in die Daunensklamotten und um 17.00 Uhr verschwindet die Sonne hinter einer Wolkenfront und geht dann bald unter. Ab und zu spielen wir eine Runde "Kniffel", "Memory", erzählen Schwänke aus unserer Jugend oder albern einfach nur herum. Lachen ist die beste Medizin in allen Lebenslagen und vor allem gegen Kälte.
20.00 Uhr beginnt die Schnarchzeit with vivid, wild dreams.