Nach Skardu, 16./17.8.

16.8.2001

Nach nur wenigen Stunden Schlaf piepste schon um Mitternacht wieder der Wecker und Jehangir begann mit dem Kochen. Zum Glück regnete es draußen vor den Zelten nicht mehr. Inzwischen war es nämlich kalt genug, daß der Niederschlag als Schnee fiel. Im dichten Schneetreiben konnte man allerdings selbst im Lichtkegel der Stirnlampen kaum ein paar Meter weit schauen. Unter diesen Bedingungen ist ein nächtlicher Aufbruch undenkbar. So blieb uns nichts anderes übrig, als zu warten. Entweder es hörte irgendwann zu schneien auuf oder es würde irgendwann hell. Nach vier Stunden traf wenigstens letzteres ein, so daß die Träger, die die Nacht unter aufgespannten Plastikplanen eng aneinandergekuschelt verbracht hatten, sich aus ihren Decken wickelten und auf kleinen Feuern gesalzenen Tee in verbeulten Blechdosen kochten.

Fast genau 5 Uhr waren plötzlich alle gleichzeitig startklar, und es ging los, nachdem wir in Minutenschnelle unser großes Mannschaftszelt abgebaut und verstaut hatten. Wir mussten den Weg durch 20 cm Neuschnee spuren, doch da der Paßübergang über den Gondogoro-Paß gut mit Fähnchen markiert ist, gab es wenigstens keine Orientierungsprobleme im noch immer anhaltenden Schneetreiben. Nur die Suche nach den oft tief unter dem Schnee verborgenen Fixseilen war oft nicht ganz einfach und einmal gruben wir mehrere Quadratmeter Hang um, ehe einer das für die Träger dringend erforderliche Fixseil fand. Der Aufstieg von Norden zur Paßhöhe ist nämlich durchaus hochalpin und verläuft über einen spaltenreichen Gletscher mit einigen Steilstufen. Die Ausrüstung, mit der die Träger diese Passagen überwanden, ist mehr als nur unzureichend. Steigeisen besaßen gerade mal drei oder vier von ihnen und die vorsintflutlichen, stumpfen Dinger wurden einfach mit möglichst vielen Bändern und Riemen unter die Turnschuhe gebunden. Die meisten hingegen hatten nur Turnschuhe, die aus einem Guß aus Plaste oder Gummi gespritzt werden und für wenige Rupees vermutlich in allen Schuhläden in ganz Pakistan erhältlich sind. Meist waren diese Schuhe dann auch noch kaputt und hatten überall Löcher, durch die ungehindert der Schnee eindringen konnte. Um auf den glatten Spritzgummisohlen nicht ständig auszurutschen, zogen viele die Socken über die Schuhe. Natürlich waren die Socken dann sofort vereist, denn die Temperaturen hier oben lagen nun schon wieder deutlich unter Null Grad.

Den Vogel schossen zwei Träger ab, die lediglich Plastiksandalen an den Füßen hatten. So eine Art Badelatschen quasi. Man kann sich nicht vorstellen, welch ungeheure Härte die Balti-Trager hier zeigten. Nicht einer jammerte oder klagte! Und wir nahmen die Erkenntnis mit, daß es uns in unserem Leben wohl noch niemals so richtig schlecht ging. So lange man nicht gezwungen ist, bei Minusgraden und Schneesturm in Sandalen und ohne Mütze oder Handschuhe eine 20 kg schwere, sperrige Last über einen 5600 m hohen Paß zu buckeln, um seine Familie ernähren zu können, geht es einem doch unvorstellbar gut, oder?

Wir halfen, so gut wir konnten, verborgten all unsere Handschuhe, Schals und Teleskopstöcke. Natürlich reichte das längst nicht, um alle Träger auch nur halbwegs vernünftig auszurüsten, doch ernteten wir viele dankbare Blicke, und es entspann sich so manches freundschaftliche Gespräch. Gegen 7.30 Uhr, zweieinhalb Stunden nach dem Aufbruch, überschritten wir die Passhöhe, in ziemlich genau 5600 m Höhe. Der Gondogoro-Pass ist einer der spektakulärsten Aussichtspunkte des zentralen Karakorum, bietet sich doch von hier ein Panorama der Extraklasse: 6 der 20 höchsten Berge der Welt auf einem Foto vereint. Wo hat man schon die Möglichkeit zu so einem Schnappschuß?

Heute jedoch blieben die Fotoapparate im Rucksack, denn außer dichtem Schneetreiben gab es nach wie vor nichts zu sehen. Auf der Paßhöhe wehte zudem ein eisiger Wind, der die verschwitzte Kleidung der Träger steif gefrieren ließ und auch bei uns für eisige Finger und Nasenspitzen sorgte. Also nichts wie auf der anderen Seite des Passes wieder hinunter! Das ist gar nicht so einfach, denn der Abstieg über Schotter und losen Fels ist extrem steil und unter der dicken weißen Neuschneeschicht glatt und tückisch geworden. Langsam, fast übervorsichtig, hangelten sich die Träger an einigen fest installierten Seilen zu Tal. Der Abstieg dauerte noch einmal eine halbe Ewigkeit. Im einförmigen Grau der schneerfüllten Luft war kaum ein Vorwärtskommen erkennbar. Das wir immer tiefer kamen, merkten wir vor allem daran, daß der Schnee immer feuchter wurde und schließlich in Regen überging. Irgendwann erreichten wir den Talboden und registrierten überrascht, daß hier sogar schon wieder erstes Gras und andere kleine Pflanzen wuchsen.

Kurz vor 11 Uhr tauchte die Alm Khuspain vor uns auf. Die Träger waren völlig durchnäßt und wir kaum weniger. Also Zeit für eine ausgiebige Mittagsrast, die sich bis 12.45 Uhr hinzog. An kleinen Feuern oder über dem Kocher trockneten die Sachen; von innen wärmte heißer Tee und neue Energie gaben ein paar Kekse und etwas Schokolade. Zur Aufmunterung zeigten sich sogar mal ein paar Sonnenstrahlen, und es hörte erst einmal auf zu regnen. Die Träger wollten heute noch so weit wie möglich hinunter. Darauf hatten wir zwar keine übermäßige Lust, da die Tagesetappe dann doch ziemlich lang würde, aber wir hatten Mitleid mit unseren tapferen Helfern und ließen uns überreden. Hätten Lydia und Olaf allerdings gewußt, daß es bis zum vereinbarten Tagesziel in Shaicho noch viele viele Kilometer und 5-7 Stunden waren, wären wir vielleicht nicht so großzügig auf die Wünsche der Träger eingegangen.

Der Weg zog sich am Ende mehr und mehr in die Länge und zwei Bachüberquerungen von am Nachmittag zu beachtlicher Größe angeschwollenen Gletscherbächen machten den Marsch noch zusätzlich spannend. 16.45 schließlich erreichten Christian, Markus und Ralf gemeinsam mit den Trägern das Lager bei Shaicho, welches bereits wunderschön inmitten grüner Bäume auf 3600 m Höhe gelegen ist. Lydia und Olaf (der nach einem Unfall mit 9 Schrauben im Fuss etwas gehandicapt ist) kamen etwas später bereits in der Dämmerung im Lichte der Stirnlampen an, doch waren wir alle froh, daß wir nun schon so weit gekommen waren und unsere Träger sich von den Strapazen der Paßüberschbreitung hier unten richtig erholen konnten.

17.08.2001

Verglichen mit der gestrigen Tagesetappe war das für heute verbliebene Marschpensum geradezu lächerlich gering. Wahrscheinlich deshalb waren die Träger auch bester Laune und scherzten und schwatzten in einem fort. Am Morgen konnten wir uns wahrscheinlich das erste Mal überhaupt auf unserer Expedition so richtig Zeit lassen und brachen daher erst 9 Uhr auf. Der Weg führte uns entlang des breiten Hushe Valley nach Hushe, dem Hauptort des Tales und gleichzeitig Heimat der meisten unserer Träger. Gerade mal zwei bis drei Stunden benötigten wir für die landschaftlich wunderschöne Strecke, auf der sich ständig neue Ausblicke auf kühne Granitzähne, -türme und -nadeln in den zahlreichen Seitentälern öffnen.

Gegen Mittag erreichten wir schließlich das Dorf Hushe, nachdem wir die letzte halbe Stunde bereits durch reife Gerstenfelder und vorbei an üppig grünenden Bäumen gewandert waren und tief den Duft all dieser lange entbehrten blühenden und grünenden Natur eingesogen hatten. In Hushe wurden alle Lasten kontrolliert und die Träger ausgezahlt. 3000 Rupees bekamen die 40 Männer jeweils für drei Tage harte Arbeit plus zwei Tage Anmarsch ins Basislager. Und weil sie sich im Schneetreiben am Gondogoro La so tapfer geschlagen hatten, legten wir noch einmal extra 100 Rupees pro Nase obendrauf, auch in der sicher leider vergeblichen Hoffnung, daß sich einige von ihnen wenigstens mal ein paar warme Socken oder gestrickte Handschuhe kaufen würden für die nächste Tour als Träger am Gondogoro-Paß.

Nach der Bezahlung überall strahlende Gesichter. Alle bedankten sich noch einmal extra und manche kamen sogar vorbei, um uns stolz ihre kleinen Kinder zu zeigen, niedliche kleine Dreckspatzen von 1 bis 10 Jahren, die froh waren, daß Papi nun endlich wieder zu Hause war. Wir verschenkten sämtliche übrigen Rittersport-Tafeln von unserer Expeditionsverpflegung und lösten damit unter der minderjährigen Dorfbevölkerung einen wahren Freudentaumel aus, der mitunter gar zu kleinen Rangeleien um die eine oder andere Tafel Olympia oder Trauben-Nuss führte. Am Ende waren jedoch alle zufrieden und grinsten uns aus schokoladenverschmierten Gesichtern freudestrahlend an.

  

Für uns nahm der Aufenthalt in Hushe jedoch plötzlich eine traurige Wendung, nachdem uns ein Vater sein Kind gebracht hatte, daß seit 5 Tagen weder gegessen und kaum getrunken hatte. Nach kurzer Untersuchung stellten Lydia und Olaf fest, daß der achtjährige an schwerer Diphtherie litt und schon so schwach war, daß dringenst Hilfe erforderlich war. Kurzerhand verschoben wir die Abfahrt unserer bereits wartenden Jeeps um eine Stunde, um wenigstens die notwendigste Hilfe leisten zu können. Mit Infusionen brachte Lydia den kleinen Jungen wieder soweit, daß er die Medikamente überhaupt schlucken konnte. Christian, dessen Freundin als Apothekerin zu Hause in Pirna arbeitet, brachte per Satellitentelefon die Dosierungen der Medikamente für Kinder in Erfahrung, denn damit hatte von uns keiner je zu tun gehabt. Glücklicherweise hatten wir die richtigen Medikamente dabei und konnten so hoffentlich etwas helfen. Nach der gestern gewonnenen Erkenntnis wie gut es uns eigentlich geht, bestätigte dieses Erlebnis noch einmal, wie froh wir eigentlich sein können, in einem Land zu leben, in dem achtjährige Jungen mit Diphtherie nicht sterben müssen, wenn nicht zufällig eine Expedition mit großen Medizinkoffern vorbeikommt. Sehr ruhig und nachdenklich stiegen wir anschließend in unsere Jeeps, nachdem wir dem Vater des Jungen noch einmal ausdrücklich erklärt hatten, wie die zurückgelassenen Medikamente zu verabreichen seien.

Die Jeepfahrt führte uns über schlechte Schotterpisten bis nach Kande. Hier hatten jeweils im Frühjahr 1999 und 2000 riesige Schlamm- und Steinlawinen die Jeeppiste sowie einen Teil des Dorfes dem Erdboden gleichgemacht und so mußten wir unser sämtliches Gepäck zu Fuß über die Ausläufer der Mure und den reißenden Gletscherfluß transportieren und am jenseitigen Ufer neue Jeeps beladen. Die ganze Aktion dauerte über eine Stunde, ehe es schließlich weiter gehen konnte. Kurz vor Khaplu mündet das Tal von Hushe schließlich in das gigantische Indus-Tal, dem die nun gute Straße kilometerlang auf allen seinen Windungen folgt. Hier kommt man eigentlich schnell voran, doch eine Reifenpanne kostete uns nochmals fast eine Stunde und führte zu der Erkenntnis, daß Olaf, Ralf, Christian und Markus zusammen fast so gut funktionieren wie ein Wagenheber. 20 Uhr erreichten wir endlich Skardu und quartierten uns im berühmten K2 Motel ein, wo wir schon erwartet wurden. Zum ersten Mal seit Wochen saßen wir zum Abendessen wieder an einem richtigen Tisch auf richtigen Stühlen. Mit echten Porzellantellern und einem festen Dach über dem Kopf. Aber das Allerbeste war anschließend die erste richtige heiße Dusche.

Die Zivilisation hat uns wieder! Und um das so richtig genießen zu können, steigen wir doch eigentlich auf 8000er, oder?


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