Hart, tückisch und kalt

Ich musste das Eisgerät mehrmals einschlagen, bis mir dieses leichte Vibrieren signalisiert, dass ich jetzt womöglich Vertrauen in seinen Halt haben darf. Doch rund um die eingeschlagene Haue hat sich mit einem feinen, kaum wahrnehmbaren Geräusch eine Eisschicht abgelöst. Es hörte sich so an, als würde man ein dünnes Holzplättchen zerbrechen.

Aber sehen kann ich es gut. Feine Risse haben sich gebildet. Das Eis ist heller geworden und hat seine Durchsichtigkeit verloren. Von wegen Vertrauen. Ich hebele am Eisgerät herum, das Eis löst sich und poltert zuerst auf meinen Helm und meine Füße, dann in die Tiefe. Mein Sicherungsmann zieht den Kopf ein. Ich bin zwar gleich über dem Stand aus der Falllinie heraus geklettert. Doch ein paar Eisstücken treffen ihn trotzdem. Anfechten wird ihn das aber nicht, denn das ist er gewohnt.

Der Vorstieg an einer Eissäule ist immer ein besonderer Nervenkitzel. (Foto: Helmut Hartmann)

Ich schlage noch mal und wundere mich, mit welcher Präzision ich exakt dieselbe Stelle treffe. Wieder dieses leichte Vibrieren. Diesmal wird es halten. Hoffentlich. Ich hänge mich mit meinem ganzen Gewicht an das Eisgerät und suche nach guten Stellen für die Frontalzacken meiner Steigeisen.

Als würde ich einen Fußball weg kicken, schlage ich auch sie ein, zuerst den rechten Fuß, dann den linken. Ich richte mich auf, löse das zweite Eisgerät und schlage es über dem ersten ein. Es vibriert nicht. Ich schlage noch mal, dann ein drittes Mal. Wieder poltert Eis in die Tiefe. Jetzt hält es. Hoffentlich.

Links steigt mir Jacob Andreas den Zottenbock im Defereggental nach. Rechts klettert Vittorio Messini in einer schwierigen Mixedroute. Er ist sicher einer der erfahrensten und besten Allroundbergsteiger und Eiskletterer, die ich kenne.

Ich habe mich soeben 40 Zentimeter nach oben bewegt. 40 Meter warten noch auf mich. Allerdings nur bis zum nächsten Stand. Dann kommen die nächsten 40 oder 50 Meter und die nächsten. Eisfälle können sehr lang sein. 

Als ich an dem Punkt angekommen bin, wo ich Stand machen muss, weil ich keine Eisschrauben mehr habe, fühlen sich meine Waden an, als würde jemand mit glühenden Nadeln rein stechen und meine Unterarme sind hart wie Holz. Ich drehe meine beiden letzten Eisschrauben ein, verbinde sie mit einer Schlinge, hänge mich ein, gebe das Kommando zum Aussichern und schwitze wie Adolf Hennecke nach seiner Sonderschicht 🙂

Links steigt mir Daniela Göhler den „Mittleren Seebachfall“ nach. Rechts klettert Jacob Andreas das „Schild“ im Innergschlösstal.

Nach freudigem Genuss hört sich das wohl nicht an. Eis ist hart, tückisch und kalt. Es ist meistens dort, wo die Sonne nie scheint, in abweisenden, dunklen Nordwänden, wo es immer eiskalt ist. Deshalb dauert es auch nur drei Minuten, und ich friere am Stand wie ein Schneider. Warum bin ich nicht Angler geworden oder gehe Kegeln?

Eis ist demnach die Verkörperung dessen, was die menschliche Natur eigentlich fürchtet: Lebensfeindliche Temperaturen, Dunkelheit, Unberechenbarkeit und Gefahr. Aber das ist noch lange nicht alles, was das Klettern an dem vergänglichen Stoff ausmacht:

Die modernen Eisschrauben, sind kleine technische Wunderwerke. Ich weiß, wovon ich spreche, waren meine ersten Sicherungsmittel im Eis noch Nägel, die man einschlagen musste. Meine ersten russischen Eisschrauben aus Titan bekam ich selbst mit Hilfe des Pickels kaum eingedreht. Heute gehen die Eisschrauben selbst in härtestes Eis rein wie in Butter. (Foto: Jacob Andreas)

Ein senkrechter Eisfall aus glashartem Wassereis ist für uns Menschen völlig unmöglich zu klettern. Es sei denn wir rüsten uns mit den Waffen der Eiskletterer aus, ohne die es eben nicht geht: Eispickel, Steigeisen und Eisschrauben. Die Entwicklung jener inzwischen nahezu perfekt ausgeklügelten Geräte hat die Begehung der bläulich leuchtenden Skulpturen aus gefrorenem Wasser überhaupt erst denkbar gemacht.

Dann hat das Eisklettern sehr viel mit Organisation und Erfahrung zu tun. Wie befestigt man die umfangreiche Ausrüstung am Gurt? Eisschrauben, Karabiner, Abalakov-Schlingen, Fädler und wieviel hat man davon dabei? Darüber hinaus sind Eiskletterer ständig auf der Suche nach den optimalen Klamotten für den dauernden Wechsel zwischen maximaler Belastung und Bewegungslosigkeit beim Sichern. Bis man irgendwann akzeptiert hat, dass es die perfekte Anzugsordnung gar nicht gibt, dauert es eine ganze Weile. Frieren und Schwitzen sind in diese Sportart sozusagen eingepreist!

Ich klettere den Zylinder am Nordportal des Felbertauerntunnels. (Foto: Mario Rückert)

Richtig anspruchsvoll wird es bei der Risikoabschätzung. Das ist fast schon eine Wissenschaft für sich. Hier sind vor allem Erfahrung und Instinkt gefragt. Wie wirken sich die Temperatur und vor allem deren Änderungen in den vergangenen Tagen und Wochen aus? Wie groß ist die Eismasse und deren Qualität? Was ist mit der Sonneneinstrahlung, dem Wassereintrag, der Steilheit, der Kontaktfläche zum Fels? Gibt es Risse im Eiskörper?

All das sind Einflussfaktoren, die dazu noch eine sehr unterschiedliche Bedeutung bei den einzelnen Eisfalltypen haben. Der Unterschied zwischen einem Eisschild, welches auf einer geneigten Felswand ruht und einem freihängenden Zapfen, der sich drohend unter einem überhängenden Felsvorsprung gebildet hat, liegen Welten. Und zu allem Überfluss befinden sich Eisfälle naturgemäß sehr häufig in Lawineneinzugsgebieten!

Wenn der Lawinenlagebericht so aussieht, dann muss man entweder heimfahren oder todsicheres Insiderwissen haben, welche Eisfälle wirklich lawinensicher sind.

In vielen Bereichen des Bergsports können wir auf zahllose Untersuchungen und Studien zurückgreifen, Herrn Schubert und Herrn Semmel sei Dank. Bei den Tools für die Risikoabschätzung hinsichtlich der Stabilität von Eisfällen sieht es dagegen ziemlich finster aus. Und ich denke, das wird auch so bleiben. Wie schön, dass wir eben nicht alles messen und quantifizieren können.

Eisklettern im XXL-Format. Ich sichere Falk Liebstein unter den Gipfeleispilzen in der 600 m hohen und fast senkrechten Südwestwand des Monte Sarmiento in Feuerland.

Das ist wohl auch ein Grund neben Kälte, Finsternis und blau gefrorenen Fingern, weshalb das Klettern an gefrorenen Wasserfällen immer eine Randsportart in der Familie der Bergsportdisziplinen bleiben wird. Wir mögen Dinge nicht, die sich unserer Kontrolle entziehen.

Meine subjektive Einschätzung wird sogar durch eine Statistik des DAV bestätigt: Eisklettern ist das Schlusslicht unter den Bergsportarten sogar noch hinter dem Expeditionsbergsteigen. Aha! Auch das noch. 

Auch beim Expeditionsbergsteigen kommt es sehr oft vor, dass scharfe Eisgeräte von Nöten sind, wie hier an dem bösartigen Serac, welcher den Westgrat des Shivling von seiner Gipfeleisflanke trennt.

Expeditionsbergsteigen und Eisklettern sind also die Schlusslichter in der Statistik der beliebten Bergsportarten. Irgendwie wundert mich das nicht. Beides wenig berechenbar, ausgesetzt, kalt, sehr anstrengend und deshalb wohl auch nicht ungefährlich. Denn nirgendwo bist du den Elementen so nah, ist die Abhängigkeit von ihnen so groß, bist Du ihnen so schutzlos ausgeliefert. Zumindest wenn Du ihnen fair entgegentrittst. 

Aber deshalb fließt mir auch nirgendwo so viel Energie zu, ist die Qualität des Erlebens so hoch und die Lebensfreude nach dem Erreichen des selbstgesteckten Zieles so groß. Ich werde also weiter frieren, mich für meine eiskalten Hände und Füße verfluchen und mich fragen, warum ich kein Angler oder Kegler geworden bin…

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3 Antworten

  1. Veronica sagt:

    Eine sehr interessante News übers Eisklettern, danke!

  2. Christian sagt:

    So ist Eisklettern! Der Eine friert beim Sichern, der Andere schwitzt entweder vor Angst oder vor Anstrengung. Aber schön ist es trotzdem. Und genau wie beim Klettern in der Sächsischen Schweiz, kann man sich noch lange an die Touren erinnern.
    Mir fällt immer eine Begehung vom Taxenbachfall ein. Die Temperaturen lagen um 0°C, eigentlich schon zu warm. Das Wasser floss zum Ärmel rein und zur Hose wieder raus. Das Eis war recht weich. Aber als Gesamterlebnis mit dem abenteuerlichen Abstieg war das trotzdem (oder gerade deswegen?) eine tolle Tour.
    Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, man müsste mal wieder …

  3. Janina sagt:

    Ich bin ja nicht so sehr der Eiskletter-Fan, sondern eher wärmeliebend! Aber bei den tollen Bildern, könnte man glatt schwach werden… 😉

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